Schaffner SPD will Fahrplan einhalten

Die SPD möchte Kohls Selbstinszenierung so gern ignorieren. Ihr Kanzlerkandidat soll erst 1998 gekürt werden. Aber aus Niedersachsen kommt erster Widerspruch  ■ Von Christian Semler und Jürgen Voges

Berlin/Hannover (taz) – „Ich rate meiner Partei zur großen Gelassenheit.“ Wolfgang Thierse, der stellvertretende SPD-Vorsitzende, versuchte mit seiner gestrigen Reaktion auf Kohls sorgfältig zelebrierte Ankündigung, erneut für das Kanzleramt zu kandidieren, vor allem eins: ruhig zu bleiben. Thierse sieht nicht die geringste Veranlassung, auf Kohls Selbstproklamation mit einer vorgezogenen Wahl des SPD-Kanzlerkandidaten zu antworten. Er war bemüht, den naheliegenden Eindruck zu zerstreuen, daß es auch die SPD kalt vom Fernsehhimmel herab erwischt hat.

Das Hauptstichwort des SPD- Vize wie auch des Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering heißt jetzt: „Den Fahrplan einhalten.“ Diese traditionelle sozialdemokratische Devise meint, erst mal die Ergebnisse der Landtagswahlen im September 1997 (Hamburg) und im März 1998 (Niedersachsen) abzuwarten und dann im April nächsten Jahres, auf einem Parteitag, wie es die guten Sitten vorschreiben, den Kandidaten zu küren. Vielleicht, so Thierse, wäre ja bei einem schlechten Abschneiden der SPD in Niedersachsen das Image des möglichen Kanzlerkandidaten Schröder „beschädigt“.

Franz Müntefering, der sich bereits am Donnerstag der Presse gestellt hatte, bemühte das bewährte Argument „Sachfragen statt Personal- und Koalitionsdebatten“. „Die Menschen“, sagte er, „warten nicht auf Kandidaten, sondern auf die Lösung von Problemen.“ Unbestreitbar wahr, nur daß das eine möglicherweise mit dem anderen zusammenhängt.

Die SPD setzt darauf, daß die Wirkung von Kohls Kandidaturinszenierung verpufft und es das sozialdemokratische Thema, die gerechtere Verteilung der sozialen Lasten, sein wird, das schließlich den Wahlkampf bestimmt. Sie glaubt sich – die neuen Umfragen und die jüngsten Arbeiterproteste im Rücken – auf der Gewinnerstraße. Aber wie wird sie vermeiden, daß ihre Fahrplanbeharrlichkeit von den Medien als Entscheidungsschwäche ausgelegt werden wird?

Und was ist aus dem Hause Schröder zu hören? „Die niedersächsische SPD kann auch gut mit einem Ministerpräsidenten und Kanzlerkandidaten in den nächsten Landtagswahlkampf ziehen“, sagt der Chef der niedersächsischen SPD-Landtagsfraktion, Heiner Aller. Der Gefolgsmann Gerhard Schröders ist damit einer der wenigen Sozialdemokraten, die schon jetzt den offiziellen SPD- Zeitplan für die Kür des Kohl-Herausforderers in Frage stellen. In der Staatskanzlei in Hannover gilt die Sprachregelung der Bonner SPD-Zentrale. „Vor der Niedersachsenwahl im März 1998 verbieten sich Spekulationen über weitere bundespolitische Ambitionen des Ministerpräsidenten“, versichert Schröders Regierungsprecher. Landtagsfraktionchefs Aller jedoch will diesem „Erst die Niedersachsenwahl – dann die Kandidatenkür“ nicht mehr folgen. Er nennt es eine „durchaus vernünftige Geschichte“, mit einem Kanzlerkandidaten Schröder bei den Niedersachsenwahlen anzutreten. „Das würde der SPD im Landtagswahlkampf einen richtigen Schub geben, wenn endlich ein Bundeskanzler aus Niedersachsen kommen könnte“, schwärmt Aller. Auch Oskar Lafontaine habe es bei den letzten Wahlen im Saarland nicht geschadet, daß er anschließend in Bonn angetreten sei.

Die Notwendigkeit, dann im Landtagswahlkampf gleich den Nachfolger Schröders im Amt des Ministerpräsidenten mitzupräsentieren, sieht der niedersächsische SPD-Fraktionsvorsitzende nicht: „Ein Nachfolger muß erst bestimmt werden, wenn Schröder dann tatsächlich nach Bonn geht.“ Das Ganze könne nur klappen, wenn Gerhard Schröder tatsächlich bei einer Kandidatur die Unterstützung der gesamten SPD habe. „Auch wenn der Zeitpunkt eigentlich sekundär ist, kann die SPD die Frage nach dem Kanzlerkandidaten auch schon auf dem nächsten Parteitag im Herbst in Hannover erledigen“, empfiehlt Aller. „Wenn es Schröder wird, kann das der niedersächsischen SPD nur nützen. Wenn es Lafontaine wird, kann sich Schröder dann ganz auf Niedersachsen konzentrieren.“

Immerhin sieht auch Aller das Risiko, daß sich die CDU auf einen früh gekürten SPD-Kanzlerkandidaten natürlich „einschießen“ würde. Das gleiche Risiko sehen auch die Demoskopen, die Schröder derzeit bessere Popularitätswerte als Helmut Kohl attestieren. Nach den Werten der Forschungsgruppe Wahlen etwa wollen beim Schröder-Vergleich derzeit 48 Prozent der Bundebürger den Sozialdemokraten als Kanzler und nur 38 Prozent den Amtsinhaber. Dieter Roth von der Mannheimer Froschungsgruppe weist allerdings darauf hin, daß Rudolf Scharping 1993 ähnlich gute Werte hatte. „Ob die Schröder-Freunde am Ende wirkliche Schröder-Wähler werden, oder ob das nur Leute aus dem konservativen Lager sind, die ihn auch symphatisch finden und dann doch wieder Kohl wählen, ist ziemlich offen“, sagt Roth skeptisch.

Im Schröder-Land hat zuletzt der Wähler selbst gesprochen. Dort ist die SPD bei den letzten Kommunalwahlen im verganen Herbst um 1,6 Prozent auf nur noch 38,5 abgesackt. Schröder wird es bei der Landtagswahl demnach schwer haben, sein letztes SPD-Ergebnis von 44,3 Prozent zu halten. Schröders Gefolgsmann Aller will nicht wahrhaben, daß die SPD mit einer frühen Festlegung auf den Niedersachsen als Kanzlerkandidaten auch auf einen Verlierer setzen könnte.