■ Schöner Leben: Zollstocklesen

Jeder Mann sollte einen Zollstock haben. Die meisten erben ihn in jungen Jahren schon gebraucht vom Vater. Damit kann mann dann durch die elterliche Wohnung rennen und alles vermessen, was sich so messen läßt. Wer jedoch gedacht hat, mit einem Zollstock lassen sich nur irgendwelche schnöden Gegenstände in Zentimetern und Metern erfassen, irrt gewaltig. In das ganze Universum und noch in viel mehr gewährt der Zollstock Einblick. Er muß nur aus Holz sein, sonst klappt's nicht.

Darin waren sich zumindest vor nicht allzu langer Zeit zwei Männer ganz sicher. Zwei völlig normale um die Mitte vierzig. Sie standen morgens um sechs Uhr auf der Wilhelm-Kaisen-Brücke und hatten nichts Besseres zu tun, als den Holzzollstock auf den Boden zu pfeffern. Mit Karacho. Kurze Diskussion, dann ging's wieder von vorne los. Zollstock geradebiegen und auf den Beton knallen. Volle Pulle. Diskussion, Zollstock gerade, und wieder knallte des Handwerkers Lieblingsutensil mit Schmackes auf den Gehweg.

Völlig besoffen? Falsch! Völlig nüchtern waren die zwei. Machten zumindest den Eindruck, also näher ran und hören worum es geht: „Der Winkel zwischen Zentimeter 39 und 41 deutet nichts Gutes an.“„Dafür ist die fast vollkommene Gerade exakt am Meterpunkt ein bombastisches Omen. Mehr kann man sich doch nicht wünschen.“„Ja, aber die Überquerung auf den letzten 80 Zentimetern bedeutet einen fiesen Tod.“„Stimmt!“

Schweigen auf der Brücke. Entsetzen.

„Versuchen wir's mal mit dem Liebesleben.“Und wieder knallt das Metermaß auf die Straße. Irrsinnig verkrümmt bleibt der Zollstock liegen. Zufriedene Mienen machen sich breit bei den zwei Männern. „Klasse, das heißt jede Menge Glück bei Frauen. Da scheiß' ich doch auf meine Todesart.“Ein tolles Liebesleben erschließt sich offensichtlich aus den mittig überlappenden Enden des Zollstocks. Oder aus einem kongruenten Dreieck?

Man wird es nicht erfahren. Allergisch reagierten die zwei auf Zuschauer. Stört man sie, wollen sie einem „ein paar auf die Fresse hauen“. Nur soviel wird verraten: „Andere schmeißen eben Knochen durch die Gegend und wir einen Zollstock. Was ist daran so komisch?“Eigentlich nichts. Nur wie das mit dem Zollstock und dem Liebesleben zusammenhängt, wär' doch interessant gewesen! Jens Tittmann