Aktivposten in Ost und West

Für Regierung und Bevölkerung Polens ist das Ja zur Nato klare Sache, auch wenn es das Verhältnis zum Nachbarn Rußland belastet  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

In der Armeebuchhandlung reißen sich junge Männer die Zeitschrift Polnischer Soldat aus den Händen. Begehrt ist nur eine Seite: „Karriere in der Nato“. Hastig überfliegen die 17- bis 19jährigen den Werbetext: „Ausbildung in Westeuropa und Amerika, internationale Manöver, UN-Missionen in der ganzen Welt.“ Problem ist nur, daß in der Nato niemand polnisch spricht, also müssen die jungen Leute Befehle, Fachausdrücke und Waffensysteme auf englisch kennenlernen. Das Abenteuer lockt: „In zwölf Schritten zur Nato“ – und dann als „Blauhelm“ in Afrika Dienst schieben oder in Bosnien einen „echten Krieg“ erleben. Für polnische Jugendliche ist die Nato- und UN-Perspektive schon selbstverständlich.

„Die Öffnung der Nato hin zu den mittel- und osteuropäischen Staaten ist Teil der Reform und des neuen Selbstverständnisses der Nato“, erklärte Polens Präsident Aleksander Kwasniewski in seiner programmatischen Rede im Oktober 1996 vor dem „Royal Institute of International Affairs“ in London. „Wir sind überzeugt, daß sich unsere Mitgliedschaft in der Nato positiv auf die Verteidigungsbereitschaft und die Stabilitätspolitik des Bündnisses auswirken wird.“ Polen bringt 14 Divisionen in die Nato ein, drei große Häfen, ein dichtes Netz von Flughäfen und gutnachbarliche Beziehungen zu allen westlichen und fast allen östlichen Anrainerstaaten.

Auf die Frage, ob Polen in die Nato aufgenommen werden soll oder nicht, haben alle polnischen Regierungen seit der Auflösung des Warschauer Paktes nur eine Antwort gegeben: „Ja, natürlich!“ Über 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen diese Linie. Nato- Gegner gibt es weder in der Regierung noch im Sejm oder in der außerparlamentarischen Opposition. Hin und wieder meldet sich ein Nato-Skeptiker zu Wort, so etwa Mieczyslaw Rakowski, der letzte kommunistische Ministerpräsident Polens. Doch seine Warnungen – keine Isolation Rußlands – zielen ins Leere, da Polen eine aktive Ostpolitik betreibt, mit Litauen und der Ukraine gemeinsame Bataillone unterhält und auch Rußland entsprechende Angebote unterbreitet hat.

Noch im November 1996 sah es so aus, als verbesserten sich endlich die polnisch-russischen Beziehungen. Während des Besuchs von Premier Cimoszewicz in Moskau stand Polen zum erstenmal nicht als abtrünniger Ex-Bündnispartner und potentiell bedrohlicher Nato-Vorposten am Pranger. Vielmehr waren die Russen an Polen als einem „Tor nach Westeuropa“ interessiert. Wirtschaftsthemen standen im Vordergrund.

Erst als die Verhandlungen über den Beitritt von Polen, Tschechien und Ungarn konkretere Formen annahmen, wurde das Klima wieder rauher. In Polen wird das harte Njet der Russen als taktisches Manöver wahrgenommen. Daß Polen aufgenommen wird, habe Rußland längst akzeptiert, jetzt gehe es nur noch um den Preis. Und den wolle Rußland so hoch wie möglich treiben. Denn die faktische Einbindung der polnischen Streitkräfte in die Strukturen der Nato läuft ja bereits, gut sichtbar auch für die Russen, seit Jahren. Die Zahl der Nato-Manöver mit Beteiligung der Beitrittskandidaten wächst von Jahr zu Jahr. Über 1.000 polnische Offiziere haben ihre Ausbildung bereits in Nato-Ländern absolviert, gemeinsame Expertenseminare zu Themen wie Logistik, Militärrecht, Bewaffnung, UN-Missionen, Personalpolitik und militärische Führung gehören zum Alltag. Erste Nato-Offiziere aus den USA und Deutschland haben ihre Ausbildung an der Militärakademie in Warschau aufgenommen. Nach wie vor studieren aber auch polnische Offiziere in Moskau, es gibt Abkommen über weitere Waffen- und Ersatzteillieferungen zwischen Polen und Rußland.

Dies weiß wiederum auch die Nato und stört sich nicht groß dran. Im Gegenteil: Das „Partnerschaft für den Frieden“-Programm, das die Staaten der Nato und des ehemaligen Warschauer Paktes miteinander verbindet, hat eine erste Schneise in das Mißtrauen geschlagen. Noch aber bleibt eine große Angst: Zwar können die Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes nach 50 Jahren endlich souverän entscheiden, welchem kollektiven Sicherheitssystem sie abgehören wollen. Das heißt aber noch lange nicht, daß sie dann auch tatsächlich aufgenommen werden.

Schon einmal, in Jalta, haben die Großmächte über die Köpfe der mittelosteuropäischen Staaten hinweg entschieden und sie dem Interessengebiet Stalins zugeschlagen. Der polnische Vizeverteidigungsminister Andrzej Karkoszka warnte auf einer Tagung des Aspen-Instituts Mitte April in Berlin, daß sich trotz aller vertrauensbildender Maßnahmen ein Jalta II anbahnen könnte. Was das für die Region bedeuten würde, ist klar: Rüstungswettlauf, Destabilisierung, regionale Konflikte, wirtschaftlicher Niedergang.