Mitterrand sah und hörte alles

Die Schattenseiten des verstorbenen letzten sozialistischen Präsidenten Frankreichs werden immer düsterer. Zum Teil aus privaten Gründen ließ er Regimekritiker abhören  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Vu“ steht auf den Abhörberichten: „Gesehen“, in der Handschrift des Staatspräsidenten. Mit diesen Buchstaben nahm François Mitterrand die angezapften Telefongespräche von Journalisten, Schriftstellern, Schauspielern und Mitgliedern seiner eigenen Familie zur Kenntnis. Ein Jahr nach seinem Tod hat ein Dokumentenfund in der Vorstadtgarage eines Exagenten Gewißheit über eine langjährige Vermutung gebracht: Mitterrand war zumindest Mitwisser der Horcherei in Hunderten von französischen Telefonleitungen in den Jahren 1983 bis 1986.

Doch kaum sind die Beweise in der Garage von Armeehauptmann Christian Prouteau, dem einstigen Chef der Abhörzelle des Elysee, aufgetaucht, bemühen sich die Nachfolger des Sozialisten Mitterrand um neuerliche Geheimniskrämerei. Alain Juppé, der heutige konservative Premierminister, weigert sich, das Aussageverbot aus Gründen des Geheimnisschutzes, auf das sich Mitterrand berief, aufzuheben, um die Ermittlungen zu erleichtern. Prouteau, der heute erneut von Richter Jean- Paul Valat verhört werden wird, kann sich mit seinem hartnäckigen Schweigen darauf berufen.

Zahlreiche Geheimniskrämer quer durch die französische Politik sind mit von der Partie. Der konservative Exinnenminister Charles Pasqua, ein ausgewiesener Experte diskreter Geschäfte von Libanon bis Korsika, genauso wie der Sozialist Michel Charasse, einstiger Mitarbeiter Mitterrands. Andere Politiker plädieren für gnadenlose Offenheit – aus unterschiedlichen Motiven. Der Chef der liberal-konservativen Partei UDF, François Leotard, ein ehemaliges Abhöropfer, ist ebenso für Aufklärung wie der neue Chef der Sozialisten, Lionel Jospin, der sich und seine Partei mühsam aus dem dunklen Schatten Mitterrands zu holen versucht.

Das Geheimnisrecht stammt noch aus dem Algerienkrieg und soll das „vitale Interesse“ Frankreichs schützen. Auf dieser Grundlage konnte der Staatspräsident bis 1991, als erstmals ein rechtlicher Rahmen geschaffen wurde, ungestört schnüffeln. Er mußte bloß den Verteidigungsminister und den Premierminister informieren.

Mitterrand hat das Geheimnisrecht weidlich genutzt. Unter anderem schuf er eine „interministerielle Kontrollgruppe“, die von einem Keller unter dem Pariser Invalidenplatz aus ihre Ohren in alle Richtungen ausstreckte. Wo dabei nationale und wo private Interessen, darunter Bettgeschichten, im Mittelpunkt standen, ist höchst umstritten. Unter anderem ließ der Staatspräsident den Schriftsteller Jean-Edern Hallier abhören, der gedroht hatte, die Öffentlichkeit über Mitterrands uneheliche Tochter Mazarine zu informieren.

Über Mitterrand sind in den letzten Jahren zahlreiche Dinge bekanntgeworden, die im Widerspruch zu seinen Versicherungen standen. Unter anderem log er über seine Gesundheit, über seine Rolle im Vichy-Regime und in Gerichtsverfahren gegen einstige Kollaborateure. Bekannt ist auch, daß im Umfeld Mitterrands auffällig viele Personen Selbstmord begingen. Unter anderem erhängte sich auch einer der Mitarbeiter der Abhörzelle des Elysees während der Ermittlungen. Ein großer Kenner der französischen Geheimniskrämerei, der Ende März verstorbene Afrika-Experte Jacques Foccart, legt in seinen Anfang dieser Woche erschienenen Memoiren sogar nahe, daß Mitterrand möglicherweise hinter dem Mord an dem einstigen Polizeichef des Vichy- Regimes, René Bousquet, steckte.