„Wichtig ist kritische Diskussion“

■ Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer über wachsenden Islamismus und Lebenslügen der deutschen und türkischen Gemeinschaften

taz: Was halten Sie von der erneuten Erwähnung von Milli Görüș im VS-Bericht?

Heitmeyer: Wenn damit die Vorarbeiten zum Verbot in Gang gesetzt werden sollen, so ist das unsinnig. Wichtig ist eine kritische, öffentliche Diskussion mit den Islamisten.

Ihre Studie „Verlockender Fundamentalismus“ beschäftigt sich mit wachsendem Islamismus unter türkischen Jugendlichen. Sie stößt auf Kritik. Warum?

Wie bei den frühzeitigen Rechtsextremismusstudien lautet die Abwehrhaltung zunächst: Das kann nicht wahr sein. Weiter werden von vielen nationalistische Einstellungen bei deutschen Jugendlichen – zu Recht – als großes Problem gewertet, während sie bei türkischen Jugendlichen für eine angemessene Identitätsbildung als durchaus notwendig erachtet werden.

Von türkischer Seite wird Ihnen vorgeworfen, sie würden mit der Studie Jugendliche stigmatisieren, die ohnehin ständig angeklagt würden.

Dieser Vorwurf stellt die Verhältnisse auf den Kopf – und zwar aus leicht durchschaubaren Motiven. Das zentrale Ergebnis der Studie verweist auf die Verantwortung der Erwachsenengeneration der Mehrheits- als auch der Minderheitsgesellschaften. Jugendliche, ganz gleich welcher Herkunft, setzen sich doch immer nur mit dem auseinander, was die Erwachsenengenerationen ihnen übriglassen beziehungsweise anbieten – und ziehen daraus ihre Konsequenzen: Sie passen sich an oder radikalisieren sich. Die Kritiker lenken ab von ihrer eigenen Verantwortung, durch Diskussionen in der türkischen Gemeinschaft die Probleme islamisch-fundamentalistischer Orientierungen auf die Tagesordnung zu setzen. Dies passiert meiner Wahrnehmung nach nicht. Wenn diese Akteure sich vor dem Hintergrund problematischer gesellschaftlicher Entwicklungen dann vermeintlich „vor“ die Jugendlichen stellen, denken sie in der Regel vorrangig an sich selbst.

Nun werden die Ergebnisse Ihrer Studie von einigen als eine Bestätigung für die Unvereinbarkeit von Kulturen gesehen. Vor allem Lehrer, die vor den komplexen Problemen einer Einwanderungsgesellschaft kapitulieren, argumentieren so.

Wenn man die Bühnenbilder zur multikulturellen Gesellschaft als „immerwährendes Straßenfest“ und als „dauerhaftes Chaos“ beseite räumen würde, dann würden auch keine prinzipielle Unvereinbarkeiten zutage treten. Klar ist, daß man ohne Auseinandersetzungen nicht auskommen kann. Die Frage ist, ob dies in den einzelnen Stadtvierteln und Straßenzügen ausgehalten wird oder ob es zu Rückzügen kommt, wie sich dies in Schulen andeutet, wenn sich türkische Schüler und Schülerinnen ebenso von der Schule zurückziehen wie deutsche Lehrer und Lehrerinnen von ihnen. So nimmt unter anderem die deutsche Sprachkompetenz türkischer Kinder ab. Langfristig werden damit ihre Chancen in der deutschen Gesellschaft immer mehr gemindert. Nun gibt es von türkischer Seite gegenüber Jugendzentrumsleitern, die auf Deutsch als Umgangssprache unter den Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft bestehen, die unglaubliche Anklage des „Sprachfaschismus“, obwohl man weiß, daß die zweifache „Halbsprachlichkeit“ schon katastrophale Folgen für die Kinder und Jugendlichen hat. Es regt sich die Vermutung, daß diejenigen in der türkischen Gemeinschaft, die dies nicht sehen, ihre eigenen politischen wie religiösen Ansprüche im Auge haben.

Diese Einflußnahme bezieht sich auch auf die Frage der islamisch-fundamentalistischen Orientierungen bei einem Teil der türkischen Jugendlichen. Daß es ein „Feindbild Islam“ gibt, ist völlig unbestritten. Aber es keimt der Verdacht auf, daß manche in der türkischen Gemeinschaft von der Existenz eines Feindbildes Islam immer mehr abhängig zu werden drohen, je weiter die Aufklärung möglicherweise auch türkische Jugendliche erfaßt.

Ist die Integration der Immigranten gescheitert?

Je näher man sich den Situationen vor Ort nähert, um so skeptischer muß man derzeit werden. Auf allen Seiten kehrt Bitterkeit ein. Nun ist Integration durch Abgrenzung nicht per se ein Problem. Es entsteht erst dann, wenn konfrontative Identitätspolitiken von Mehrheit und Minderheiten zu Parallelgesellschaften führen. Bestimmte islamische Varianten haben dazu ausgiebig beitragen, indem sie massiv gegen die westliche Gesellschaft auftreten. Eine Gesellschaft aber, die keine realistische Auffassung von ihren eigenen Konflikten hat, brütet untergründig ungeheure aggressive Potentiale aus. Interview: Eberhard Seidel-Pielen