Schönste Nebensache der Welt

■ Das Netzwerk junge Literatur mit neuen Autoren im Tresor

Jugend trainiert nicht nur für Olympia – ab und an schreibt sie auch. Derzeit finden sich im weiten Mittelfeld derer, die es nicht von der Abifete direkt nach Klagenfurt geschafft haben, zwei besonders laute Pole. So protestiert die von Hadayatullah Hübsch zusammengehaltene Social-Beat-Crew von Hanau bis Helmstedt gegen zuviel Sozialabbau und zuwenig Bier, während die Pop-Fraktion von Poetry-Slams träumt, sich nach amerikanischen Verhältnissen sehnt und ansonsten über Travolta und Tocotronic nachdenkt.

Aber nicht alle jungen Menschen zwischen 16 und 26 mögen sich, was die Zukunft ihres Schreibens angeht, auf die Schnelle zwischen Büchsenbier am Imbiß und Longdrink in der Chill-out- Lounge entscheiden – gut also, daß sich auch die Neue Gesellschaft für Literatur um den Nachwuchs kümmert und mit Schreibwerkstätten und Lektoratsangeboten versucht, den Meistern von Morgen abseits vom Szenerummel unter die Arme zu greifen.

Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist die aus den Ergebnissen eines Schreibwettbewerbs entstandene Anthologie „Stadt – Alltag in Metropolis“, die heute abend mit einer Lesung im Tresor vorgestellt wird. Die Qualität der Arbeiten ist allerdings so unterschiedlich wie die vielfältigen Ansätze, mit denen die zwanzig ausgewählten Jungautorinnen und -autoren sich der urbanen Lebenswelt annähern. Auffällig ist dabei, daß von jener neuen Leichtigkeit des Seins, die der in der Kohl-Ära herangewachsenen Jugend gern unterstellt wird, wenig zu spüren ist.

So wird in den Prosatexten das Elend im Studentenmilieu ebenso beschrieben wie die Angst vor einer computerkontrollierten Zukunft oder das Leid derer, denen es nicht gelingt, in selbstgeschaffenen sozialen Netzen Rückhalt zu finden: die Frau mit den Selbstmordphantasien, die leider nur im dritten Stock wohnt und von einem New Yorker Hochhaus träumt, das Mädchen, das sein Leben im Regal aufbewahrt, der Sohn aus gutem Hause, der sich mit dem Elend der Welt weder komplett anfreunden noch richtig anlegen will.

Doch während die Autoren dieser Stücke trotz ungelenker Formulierungen und einiger schematischen Überzeichnungen ihr Material weitgehend im Griff haben, funktioniert der einzige, von Jana Erdmann unternommene, Versuch einer dramatischen Zuspitzung nicht – obwohl die Idee, statt bei den Lieblingen der Deutschlehrer auch mal bei R.E.M. zu klauen, so schlecht nicht ist. Ach, hätte sie doch zum Trainconductor aus dem Song „Driver 8“ noch den „Man on the Moon“ hinzugenommen und gewissermaßen automatisch für die Leute das Rätsel der sieben chinesischen Brüder gelöst!

Statt dessen läßt sie Gestalten wie den Melancholiker, den Poeten, den Idealisten und die Pantomime gegeneinander antreten und verwickelt sie in tiefsinnige Dialoge über Kunst und Evolution. An Originalität hapert es auch im lyrischen Nachbarzimmer, wo Jan Kettner als Großstadt-Che „krankgesundet“ in die „Höhlen der Städte“ zurückkehrt und Marcus Brühl im Steinwald ersteinert. So viel Beton vermögen dann auch andere, subjektive Bilder nicht zu knacken, die in ihrer Nachahmung des Poetischen vage bleiben.

Aber solange junge Literaten wie Michael Georg Bregel von der „Gruppe 94“ sich ordentlich bei Radio Mainwelle und anderen heimatlichen Klein-Sponsoren für die finanzielle und moralische Unterstützung bedanken und der mit fünf Gedichten vertretene Alexander Gumz Literatur für „die schönste Nebensache der Welt“ hält, sollte das nicht weiter problematisch sein – schließlich ist aller Anfang heavy. Gunnar Lützow

„Stimmen unter der Stadt“. Lesung heute abend um 20 Uhr, Tresor, Leipziger Straße 126a