Müllnotstand im Briefkasten

■ Kommerzielle Massensendungen, aber auch böswillige Beschimpfungen belasten den Mailverkehr. Im Usenet wollen militante Eingreiftruppen dagegen vorgehen

David Harris lebt in Neuseeland und genießt einen ausgezeichneten Ruf im Internet. Harris hat das überaus beliebte Mailprogramm „Pegasus“ entwickelt. Es kann kostenlos aus dem Netz geholt werden und leistet alles das, was so ein Programm leisten muß: Briefe empfangen, sortieren, darstellen, speichern und versenden.

Kaum jemand dürfte seine unübersehbar vielen spezielleren Funktionen nutzen, aber nun stellt sich heraus, daß mit Pegasus auch Dinge möglich sind, die Harris nicht programmieren wollte. Er bat deswegen die Gemeinde der Pegasus-Nutzer um Hilfe – per E-Mail. Er wolle in den USA einen Prozeß führen, schrieb er Ende des vergangenen Monats, denn er habe festgestellt, daß dort ständig gegen einen Passus in der Erklärung verstoßen werde, der jeder Pegasus-Nutzer beim ersten Start des Programms zustimmen muß.

Für dieses folgenlose Einverständnis genügt ein Mausklick, und kaum jemand liest die in diesen Fällen üblichen Standarderklärungen. Genau das aber bereitet Harris nun „schlaflose Nächte“, wie er schreibt. Denn seine Nutzungserklärung enthält ein strenges Verbot, das Programm für das sogenannte Mailspamming zu mißbrauchen. Gemeint sind Massensendungen teils böswilligen, teils auch nur sinnlosen Inhalts an beliebig viele Adressaten. Der gute Ruf seines Programms scheint ihm damit auf dem Spiel zu stehen. Tatsächlich ist das Mailspamming dabei, den bislang medienträchtigeren Netzskandalen wie der Pornographie den Rang abzulaufen. Harris will versuchen, seiner Nutzungsvorschrift in einem Musterprozeß nach US-amerikanischem Recht Geltung zu verschaffen.

Das Verfahren würde eine Debatte neu entfachen, in der bereits der Ruf nach staatlichen Kontrollen laut geworden ist. Noch setzen die Internet-Pioniere, die zur Zeit vor dem Obersten Gerichtshof erneut ihre Argumente gegen die Zensurbestimmungen des „Communication Decency Act“ vortragen, lieber auf die vielgerühmte Selbstkontrolle des Netzes. Staatliche Eingriffe würden die Meinungsfreiheit erneut in Frage stellen, so warnen sie. Nur ist von einer Lösung des Spam-Problems nichts zu sehen. Keine Newsgroup ist mehr sicher vor Mail-Bombardements. Einige davon, zum Beispiel „alt.gothic“ und „alt.binaries .slack“, versuchen mit selbsternannten Eingreiftruppen dagegen vorzugehen. Was sie tun wollen, ist eher unklar, aber der Ton ist rüde: „Nennt uns faschistische Netzcops, jawohl, das sind wir.“

Doch auch private Mailadressen jenseits aller ideologisch aufgeladenen Diskussionsforen werden gelegentlich zum Ziel anonymer Attacken. Was früher noch unter dem Namen „Flaming“ im Usenet ein beliebtes Mittel war, Störenfriede in Diskussionsforen abzustrafen, hat sich zu einem aggressiven Spiel entwickelt, das ohne ersichtlichen Grund gegen alles und jedes in Gang gesetzt werden kann.

Mit Programmen wie dem Pegasus-Mailer lassen sich auch ohne Hackertalente beliebig lange Dokumente an beliebig viele Adressen absetzen. Und anders als im Falle der Pornographie oder der politischen Agitation im World Wide Web können sich die Empfänger solcher Botschaften kaum wehren. Sie haben keine der einschlägig bekannten Websites oder Newsgroups angewählt, sie müssen hilflos zusehen, wie der Computer Briefe aus ihrem eigenen Briefkasten holt, die sie niemals lesen wollten.

Die eigene E-Mail-Adresse, eben noch stolz auf die Visitenkarte gedruckt und schon kaum noch aus dem Alltag wegzudenken, erweist sich als Einfallstor für persönliche Belästigungen jeder Art, wenn nicht zu Schlimmerem. Das kann damit beginnen, daß eine bislang völlig unbekannte Firma an alle ihr bekannten Mailadressen schreibt, man möge sich doch bitte sogleich ihre nagelneue und einfach grandiose Website anschauen. Besonders verlockend sind solche Einladungen, wenn sie auch noch mit kilobytschweren Bildern bewaffnet sind – zum Ärger kommen dann noch durchaus nennenswerte Übertragungskosten hinzu.

Der wahrscheinliche Mißerfolg solcher Werbungen mag diesem Mißbrauch des Mailverkehrs Grenzen setzen, Kettenbriefschreiber lassen sich von solchen Argumenten gewiß nicht beeindrucken und schon gar nicht persönliche Feinde oder Konkurrenten am Arbeitsplatz, die den Mailverkehr völlig ungeniert, weil kaum zu entdecken, zum Mobbing nutzen könnten.

Die Löschtaste kommt immer zu spät

Damit ist das Internet in seinem unbestritten nützlichsten Teil beschädigt. Eine Umfrage der Softwarefirma Novell ergab im letzten Jahr, daß Mailprogramme sehr viel intensiver genutzt werden als etwa die Webbrowser. Berufstätige, so zeigte sich, verbringen mitunter täglich mehrere Stunden damit, Briefe zu lesen, zu beantworten und neue zu schreiben. Damit verglichen, ist das Surfen eine unwichtige Feierabendbeschäftigung.

Gerichtsverfahren oder staatliche Vorschriften können dem Problem wohl kaum gerecht werden. Denn von der Pornographie oder schlichten Verletzungen von Strafgesetzen unterscheidet sich der Spam auch dadurch, daß er sich eideutigen Begriffen entzieht. Das Wort ist von der britischen Spaßtruppe Monty Python zur Metapher für jede Art möglichst geschmacklosen Unfugs erhoben worden – ursprünglich bezeichnete es lediglich den nicht sehr appetitlichen Inhalt billiger Fleischkonserven. Einige Leute essen solche Dinge mit Vergnügen, bei anderen lösen sie Brechreiz aus, besonders wenn sie ungefragt auf die eigene Festplatte schwappen. Der Ärger ist individuell, weswegen die Verteidiger der absoluten Netzfreiheit den rigorosen Gebrauch der „Delete“-Taste als hinreichenden Schutz empfehlen.

Nur hat der Müll dann sein Ziel schon erreicht und wird nur nachträglich und nervenstrapazierend entsorgt. Immerhin hat sich David Harris, der schlaflose Programmierer, für diesen Ausweg eine kleine Hilfe einfallen lassen. Die nächste Version seines Mailers wird Briefe, die an mehr als fünfzig Adressaten gerichtet sind, mit Marken kennzeichnen, die es den Empfängern leichter möglich machen, das Zeug ungelesen zu löschen. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de