■ Das Modell Deutschland verband Sozialstaat und Wirt- schaftswunder. Das ist vorbei. Trotzdem droht kein Absturz
: Mittelmaß statt Katastrophe

Viele sind auf einmal besser als die Deutschen, und das ist neu. Zum Beispiel die Holländer. „Modell Holland“ titelt die Wirtschaftspresse und lobt den Nachbarstaat, der seine Arbeitslosenquote in Richtung sechs Prozent drückt. Mit Lohnmäßigung, ein bißchen Sozialabbau und vielen Teilzeitstellen. Die USA und Neuseeland liefern die härtere Version: niedrigere Löhne, schwindende Gewerkschaftsmacht, kaum soziale Sicherung, aber Hunderttausende von neuen Jobs. Bei uns hingegen verschwinden die Arbeitsplätze.

Globalisierung heißt nicht nur Konkurrenz zwischen Standorten, Globalisierung heißt auch Konkurrenz der Sozialsysteme. Und da verliert das „Modell Deutschland“ angesichts der Massenarbeitslosigkeit seine frühere moralische Führungsrolle. „In der Nachkriegsära schafften es die Deutschen mehr als jedes andere Land, den kompetitiven Kapitalismus mit einem starken sozialen Netz für Arbeitnehmer und Familien zu verknüpfen“, lobte das US-Magazin Newsweek und zitierte den amerikanischen Politikwissenschaftler Lowell Thomas: „Deutschland war nach dem Krieg nicht nur einfach erfolgreich. Es war die Art, wie Deutschland Erfolg hatte, die den Rest der Welt faszinierte.“ Das „Modell Deutschland“ war vorbildlich für die Solidarität zwischen Starken und Schwachen und formte das so dringend benötigte neue moralische Image für die Bundesrepublik.

Damit ist es vorbei im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit. „Die deutsche Krankheit“ wurde von Newsweek beklagt: „eine tödliche Kombination“ aus überbezahlten und unterbeschäftigten Erwerbskräften, zuviel arbeitsrechtlicher und staatlicher Regulierung. Irgendwo sind sie halt doch zu starr, zu bürokratisch, die Deutschen.

Wo allein das „Jobwunder“ zählt, schneidet Deutschland heute schlecht ab. Holland, Dänemark, Großbritannien, Neuseeland und die USA senkten in den vergangenen Jahren ihre Arbeitslosenquote – hier stieg sie. In dieser Diskussion geht unter, daß komplexe nationale Wirtschaftsvorgänge nicht international übertragbar sind. In Holland gibt es nicht nur eine andere Tradition des politischen Konsenses, sondern nach wie vor eine niedrige Frauenerwerbsquote. Die neuen Stellen sind Teilzeitjobs auch bei ausländischen Firmen in der Dienstleistungsbranche. Das Land lockt diese Firmen mit uneinholbar niedrigen Unternehmenssteuern. Die gesunkenen Arbeitslosenquoten in Großbritannien verschleiern, daß sich dort immer mehr Leute in die „stille Reserve“ zurückziehen und nicht mehr als arbeitslos registriert sind. Deutschland muß außerdem den historisch einmaligen Vorgang der Wiedervereinigung verkraften. Und Westdeutschland alleine steht beim Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt vor Italien an zweitletzter Stelle der wichtigsten EU-Länder.

Solche Vergleiche ändern nichts an der Tatsache, daß auch eingefleischte Sozialstaatler hierzulande inzwischen mit der populären Gleichung liebäugeln: Nullrunden, Lohnsenkungen, weniger Sozialaus- und -abgaben bedeuten mehr Jobs und weniger Arbeitslose. Der wirkliche ideologische Counterpart des deutschen Modells sind die USA.

Dort entstehen laut Statistik Monat für Monat mehr als 100.000 neue Jobs, vor allem in der Dienstleistungsbranche. Das amerikanische Jobwunder wird begleitet von sinkenden Realeinkommen der Schlechterverdienenden, geringerer sozialer Sicherheit und einer „Gefängnisquote“ von fast einem Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung. Doch auf die moralische Überlegenheit des „gerechteren“ deutschen Modells zu pochen zieht nicht mehr. Die Ungleichheit der Löhne in den USA ist zwar größer als bei uns. Das Einkommensgefälle zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Millionen von Erwerbslosen ist aber hierzulande auch recht stark. Und wenn motivierte Berufsanfänger keinen Job finden, ist auch das nicht fair.

Die USA können trotzdem nicht das neue Vorbild sein. Der Bonner Wirtschaftsforscher Meinhard Miegel betrachtet das US-System lediglich als einen Weg, den unvermeidlichen Schwund an Erwerbsarbeit in den frühindustrialisierten Ländern künstlich zu verlangsamen – indem nämlich breite Bevölkerungsschichten diese Arbeitsplätze mit sinkendem Einkommen und abnehmender sozialer Sicherheit quasi selbst bezahlen. Die niedrigen Löhne in den USA haben überdies den Nebeneffekt, das Arbeitskräfteangebot zu erhöhen: Viele US-Amerikaner brauchen Zweitjobs, und auch das belastet den Arbeitsmarkt.

Eine Kopie des US-Systems wird es in Deutschland nicht geben. Trotz der Warnungen oder Drohungen der Tarifparteien. Der Alarmismus der Gewerkschaften und Arbeitgeber gehörte vielmehr von Beginn an zum Sozialstaat. Die Unternehmerwarnungen vor dem „Absturz“ aufgrund mangelnder internationaler Konkurrenzfähigkeit sind Teil des Systems.

„Ein großer Teil der Arbeitgeber steht auf dem Standpunkte, daß schon viel zuviel für die Arbeiterschaft geschehen sei, daß die Regierung endlich einmal halt machen müsse, erstens, damit die Arbeiter nicht allzusehr verwöhnt werden, dann aber auch, damit die Industrie gegenüber dem Ausland konkurrenzfähig bleibe“, schrieb die Arbeiterzeitung Der Gewerkverein. Das war vor 90 Jahren, die ersten Sozialversicherungen waren kurz zuvor entstanden.

Der deutsche Sozialalarmismus liegt im System begründet: Umverteilung, die Alimentierung von Arbeitslosen und Kranken, war schon immer ein gesellschaftlich höchst sensibler Mechanismus. Die Umverteilung ist per se begleitet vom Verdacht, die Starken könnten ihre Stärke ausnutzen und aus dem Solidarvertrag aussteigen, oder den Schwachen könnte es unverdientermaßen zu gut gehen.

Das Soziale in der deutschen Marktwirtschaft war jedoch immer recht anpassungsfähig. In den 50er Jahren gaben sich die Gewerkschaften mit Lohnerhöhungen zufrieden, die deutlich unter dem Produktivitätsfortschritt lagen. Die Facharbeiter bekamen Löhne am Rande des Existenzminimums. Damals war jeder dritte Erwerbstätige selbständig, heute ist es nur noch jeder neunte.

Das System ist flexibel. Und wird es wieder sein müssen. Mit der internationalen Bewunderung für den prosperierenden und ausgleichenden deutschen Sozialstaat ist es jedenfalls vorbei. Deutschland wird Mittelmaß, im guten wie im schlechten. Wahr ist aber auch: Eine Auflösung des Sozialstaats im Zuge der Globalisierung findet nicht statt. Barbara Dribbusch