„Sehnsucht nach autoritären Lösungen wächst“

■ Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter über die Folgen der wachsenden Massenarbeitslosigkeit: Der Protest nimmt zu, die Resignation der Betroffenen schlägt um

taz: Die Zahl der Arbeitslosen steigt im Jahresschnitt stetig. Der Frankfurter Sozialwissenschaftler Friedhelm Hengsbach glaubt, daß fünf Millionen Erwerbslose in der Bundesrepublik demokratiegefährdend sein werden. Teilen Sie diese Meinung?

Horst-Eberhard Richter: Zunächst glaube ich, daß es noch viel mehr Arbeitslose geben wird. Banken und Verwaltungen werden noch viel einsparen, wenn sie Menschen durch Maschinen ersetzen. Andere Unternehmen werden im Ausland arbeiten lassen.

Wie lange wird unsere Gesellschaft dies noch hinnehmen?

Im Augenblick ist es so, daß die Mehrheit der Arbeitslosen noch stillhält. Sie halten sich selbst für schuldig, arbeitslos geworden zu sein. Sie empfinden sich als Verlierer und haben verinnerlicht, daß, wer abgehängt wird, selbst schuld ist an seinem Schicksal.

Was sich meist als Resignation niederschlägt.

Genau das scheint sich nun zu wenden. Wenn immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, merken sie, daß es keine individuellen Gründe sein müssen, die dazu führen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Steigert das schon die Bereitschaft, sich zur Wehr zu setzen?

Vorläufer solcher explosiven Protestbereitschaft bekommen wir ja schon mit – bei den Berg-, Stahl- und Bauarbeitern. Und das ist erst der Anfang. Die Spannungen werden sich in den nächsten Jahren sicher deutlich erhöhen.

In Frankreich gewinnen damit die Rechten Einfluß. In der Bundesrepublik gibt es eine solche rechte Formation noch nicht.

Glücklicherweise sind in unserem Land auf der rechten Seite noch keine Persönlichkeiten mit besonderer Ausstrahlung und Integrationskraft in Sicht, die diesen Trend absorbieren könnten.

Ist es denn wirklich zwangsläufig, daß Menschen ohne Arbeit irgendwann politisch nach rechts tendieren?

Ursprünglich hat das Bewußtsein von sozialer Ungerechtigkeit zu einem Aufschwung der Gewerkschaftsbewegung geführt. Jetzt hat die Bevölkerung aber den Eindruck, daß die Partei, die die sozial Schwächeren vertritt ...

... die SPD?

Ja, daß die sich eher der Mitte annähert. Der Unterschied zur Regierung fällt immer schwerer.

Was innerhalb der Sozialdemokratie nicht unumstritten ist.

Ja, sie scheint sich wieder der Interessen der Schwächeren anzunehmen. Aber es wirkt unentschieden – wie auch der Kampf zwischen Lafontaine und Schröder.

Sind fünf Millionen Arbeitslose also demokratiegefährdend?

Da gibt es keine magische Zahl. Aber ich beobachte in unserem Land eine Stimmung, die sich nach autoritären Lösungen sehnt.

Die sich parteipolitisch noch nicht ausgewirkt hat?

Nein, aber mir scheint, daß viele Menschen denken, die immer schwierigeren Probleme könnten nur autoritär bewältigt werden – so als ob eine offene Gesellschaft nicht imstande sei, den kapitalistischen Trend zu steuern und nur eine harte Hand und ein eiserner Besen helfen würden.

Was wäre eine kluge Politik gegen solche autoritären Tendenzen?

Die Politik darf nicht zulassen, daß sich ein wachsender Bevölkerungsteil als abgekoppelt und ohnmächtig erleben muß. Denn das ist der Nährboden für autoritäre Lösungserwartungen.

Die Zeit der Wachstumssprünge sei vorbei, sagt selbst die gesamte Bonner Opposition.

Sicher ist wohl, daß die jetzige Generation die letzte sein wird, die von Vollzeitarbeitsplätzen leben kann. Aber es muß das Bewußtsein vorhanden sein, daß die sozial Schwächeren nicht einseitig mit Einschränkungen bestraft werden.

Die SPD gewinnt mit Umverteilungsprogrammen keine Wahlen.

Wenn sie nicht entschlossener der Aufspaltung der Gesellschaft in eine dünne Gewinner- und eine breite Verliererschicht gegensteuert, dann wird sie künftige Wahlen erst recht verlieren. Interview: Jan Feddersen