Hamburgs Altbausammelstellen im Wind

■ taz-Serie 2. Teil: Was Kulturbauten und Denkmäler mit einer vitalen Stadt zu tun haben Von Till Briegleb

Denkmäler, die nicht benutzt werden, sind ein totes Kapital der Städte. Sie verschwinden in Publikationen und auf den überbelichteten Filmen von Touristen und dienen der Lebendigkeit der Stadt in keiner Weise. Dabei können Kulturbauten, die in den organischen Zusammenhang der Städte integriert sind, zu den vorrangigen Kristallisationspunkten städtischen Selbstbewußtseins werden. Ob es das Centre Pompidou in Paris, die Spagna in Rom, Trafalgar Square in London oder die Karlsbrücke in Prag sind, wenn ein Denkmal in einem Geflecht von anderen Nutzungen steht, ist es ein mächtiger Anziehungs- und Kommunikationspunkt für Einheimische wie Fremde und schlechthin der Ort, den man mit dem urbanen Ausdruck einer Stadt gleichsetzt.

Wo die schönsten Bauten einer Stadt aber isoliert und unbesucht im Wind stehen, sind sie sichere Indikatoren für ein erstorbenes, sie umgebendes Stadtgewebe. Aus Anlaß der Jahrestagung der deutschen Landesdenkmalpfleger in Hamburg, deren Thema zwischen dem 26. und 30. Juni die hiesige Altstadt ist, beschäftigt sich dieser 2. Teil mit dem Spannungsverhältnis zwischen Hamburgs innerstädtischen Denkmälern und der sie umgebenden Stadt.

Die drei wichtigsten Funktionen von Denkmälern in der Stadt, die jeweils unterschiedliche Wirkungen auf die Stadt als Ganzes haben, sind Identität, Attraktion und Vorbild: Kulturbauten bewahren die Erinnerung an vergangene Stil- und Kulturepochen und vermitteln so Identität, sie schaffen eine gewisse Attraktion, die als Anziehungspunkt für die Stadtbewohner und Touristen sowie als weicher Standortfaktor bei der Ansiedlung von Nutzern dienen kann, und sie stellen vielfach eine Bezugsgröße für die Baukultur späterer Architektengenerationen dar. Alle drei Funktionen haben einen mittelbaren Einfluß auf die Vitalität von Stadtquartieren, wenn sie von einer verantwortungsvollen Stadtplanung klug aktiviert werden.

Der Abriß der Erinnerung

Der Führer „Hamburger Bau- und Kulturdenkmale“ für die Innenstadt und den Hafenrand versammelt im Gebiet der alten Wallanlagen 130 Objekte. Das die Alt- und Neustadt umfassende Gebiet zwischen Millern- und Deichtor, zwischen Dammtor und der Speicherstadt, das durch die Wallstraßen begrenzt wird, hat damit eine relativ normale Dichte an Denkmalorten für eine kriegsversehrte Stadt. Betrachtet man sich die Liste des Hamburger Denkmalschutzamtes allerdings näher, so fallen verschiedene Dinge ins Auge. Zum einen versammelt die Liste auch viele alte Straßen- und Fleetverläufe, deren Denkmalwert sich nur dem Geschichtskundigen erschließen. Zum zweiten gibt es aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg kein erwähntes Subjekt. Und zum dritten sind bestimmte Epochen und Erscheinungen überhaupt nicht oder nur marginal vertreten. Neben der Zerstörung durch die von den Nationalsozialisten verschuldeten Flächenbombardements hat letzteres verschiedene hamburgspezifische Ursachen.

Zum einen hat der Brand von 1842 in der Innenstadt natürlich kaum ältere Substanz übriggelassen. Zum anderen aber gibt es einen handlungsfähigen Denkmalschutz auch erst seit 1920 mit dem ersten Denkmalschutzgesetz (novelliert und erweitert 1973). Der Verein für Hamburgische Geschichte, aus dem das heutige Museum hervorgegangen ist, hatte sich zwar bereits Anfang des 19. Jahrhunderts mit denkmalpflegerischen Absichten gegründet, aber damals konnte man gegen den wirtschaftlichen Primat der Handelsstadt kein Gebäude erhalten und mußte sich auf das Dokumentieren beschränken. Diese Tradition ist heute – trotz sehr engagierter staatlicher Denkmalpfleger – noch immer höchst virulent. Und hier findet sich der wahre Grund für die letztlich doch sehr spärliche historische Bausubstanz aus der über tausendjährigen Geschichte der Stadt, die ungefähr an der Stelle der heutigen Domstraße ihren Ausgang nahm.

Denn die unheilvolle Allianz zwischen überselbstbewußtem Erneuerungsstreben und Profitgier führte zu einer kurzentschlossenen und rücksichtslosen Abrißmentalität, die mit dem rechtlichen Schutz historischer Werte keineswegs verflog. Sei es bei Kirchen wie dem Dom (1807) oder bei ganzen Stadtvierteln wie beim südlichen Katharinenkirchspiel, das zwischen 1883 und 88 der Speichersstadt weichen mußte, sei es bei Wahrzeichen, wie dem Kehrwiederturm (1962) oder bei bedeutenden Geschäftshäusern wie dem Dovenhof von Martin Haller, Hamburgs erstem Kontorhaus, das 1967 für das Spiegelhochhaus abgerissen wurde – für alles, was nicht in die kurzen Fristen wirtschaftspolitischer Erwägungen paßte, besaß Hamburg keine Reservate. Deswegen ist es nicht übermäßig frech zu behaupten, daß die Hamburger Innenstadt auch ohne Bomber Harris heute nicht wesentlich anders aussehen würde.

Auch heute ist dieser Monopoly-Geist – hier ist eine Straße, hier wird gebaut – noch in keiner Flasche gefangen. Die Umnutzungspläne für die Speicherstadt oder die Verbauung von Fritz Högers Klöpperhaus in der Mönckebergstraße durch ein Kaufhaus des Nordens werden ja wenigstens noch öffentlich diskutiert. Aber an weniger prominenten Ecken ist die Hacke schneller als das Wort.

Jüngstes Beispiel: Gerade dieser Tage wurde an der Woltmannstraße in der City Süd eines der letzten dort befindlichen Wohnhäuser der Gründerzeit trotz voller Funktionstüchtigkeit abgerissen, um einem weiteren, monofunktionalen Büroklotz Platz zu machen. Häuser aus den letzten 50 Jahren genießen zudem eh keinerlei Artenschutz. Kurz vor seinem Tod etwa mußte Hamburgs bedeutendster Architekt der Nachkriegsmoderne, Bernhard Hermkes, miterleben, wie das von ihm entworfene Staatsarchiv in der ABC-Straße mit dem Segen der Stadt und ihres Oberbaudirektors Egbert Kossak einer weiteren gelackten Einkaufspassage geopfert wird.

Vielleicht braucht eine Stadt, die so stolz auf ihr zeitloses kaufmännisches Geschick ist, tatsächlich keine Erinnerungsorte mehr. Aber auch für die erfolgreichste Kaufmannsstadt gilt der Satz: Wer seine Herkunft vergißt, der verspielt auch seine Zukunft.

Isolierte Attraktionen

Daß der rapide Verlust an Identifikationsorten auf dem Gebiet der historischen Stadt mit zur vollständigen Verödung der Innenstadt nach Geschäftsschluß beiträgt, ist offensichtlich. Dennoch liegt hier sicherlich nicht der Hauptgrund dafür, daß die Innenstadt an sich keine Attraktivität mehr besitzt. In einem Hauptgeschäftsviertel, wo außerhalb der verstreuten Wohnarchipele Zweidrittel der Wochenzeit weniger los ist, als in der Fußgängerzone von Soltau bei Nacht, haben auch die bedeutendsten Baudenkmäler keine Chance, ihr urbanes Potential auszuspielen.

Die drei bekanntesten – das Chilehaus, die St. Michaeliskirche und die Speicherstadt – , die als die schönsten Seiten der Stadt in jeder Hamburgwerbung präsentiert werden, legen jeweils ein stummes Zeugnis darüber ab, daß verfehlte Stadtplanung nicht durch große Zeichen kompensiert werden kann.

Wer im Kontorhausviertel um den Burchhardtplatz nach 18 Uhr versucht, eine offene Kneipe zu finden, in der Nähe der Speicherstadt ein Eis oder am Michel Pommes Frites kaufen möchte, wird verstehen, warum diese Plätze außerhalb der Betriebszeiten so ausgestorben sind. Sie sind isolierte Inseln zwischen Bürohalden und Hauptverkehrsstraßen, die in keinerlei Nutzungsgeflecht verankert sind. Solange neben den städtischen Attraktionen keine Menschen wohnen, die diese alltäglich und selbstverständlich umspülen und bevölkern und in ihrem Troß für den nötigen Klein- und Einzelhandel sowie für gastronomische Betriebe sorgen, solange sind Denkmäler mehr oder minder dazu verdammt, unwirtliche Orte in der Hand von Stadtreiseunternehmern zu werden. Manchmal reicht es schon, wenn nur eine von Fußgängern bevölkerte Straße zu ihnen hinführt, aber die Zentripetalkraft in der zur Peripherie drängenden Stadt können die Baudenkmale nur in der Verwebung mit belebten Quartieren erringen.

Verschanzte Inseln

Und hier wurde gerade in der Baulückenschließung der letzten zehn Jahre gesündigt und geaast. Anstatt bestehende Wohnquartiere in der Innenstadt zu stärken und zu verlängern, so daß die einzelnen Wohninseln sich zu einem lebensfähigen Geflecht vernetzen konnten, verstopfte man die letzten Löcher in der innerstädtischen Struktur mit Bürokomplexen. Schon ein Bestehen auf mischgenutzte Komplexe hätte hier viel erreicht. Stattdessen verschanzte man die letzten zähen Widerstandsnester gegen die vollständige Herrschaft des tertiären Sektors in der Innenstadt hinter Backsteinkolossen. Späte, vielleicht zu späte Korrekturansätze dieser Politik zeigen sich gerade neben dem Michel, wo auf dem Parkplatz Gerstäckerstraße ein Büro-Wohn-Komplex mit 50/50-Quote für einen Brückenschlag zwischen den Wohnquartieren links und rechts der Ludwig-Erhard-Straße sorgen soll. Ob dies dann zur Aufwertung des Kulturortes Michel führen kann ist angesichts der neuen hübschen Büro-Messerschneide des Deutschen Rings auf der anderen Straßenseite dennoch mehr als fraglich.

Rückkehr des kerndeutschen Steins

Der letzte Aspekt – die Vorbildfunktion von Denkmälern für die zeitgenössische Architektur – ist für das aktuelle Erscheinungsbild der Innenstadt der wesentlichste. Denn zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert versuchten die Hamburger „Star“-Architekten der Vergangenheit Referenz zu erweisen. Doch leider wurde der Wert eines kulturellen Erbes für das zeitgenössische Bauen ebenso kläglich mißverstanden, wie der Sinn von Denkmälern als zentrierende Momente in einem Stadtorganismus. Denn die Bautätigkeit der letzten zehn Jahre hat – sei es aus schwammigen Heimatgefühlen oder aus modischer Nostalgie – mit der Verwendung des roten Klinkers als Synonym für hanseatische Baukultur eine Anhäufung langweiliger, aber dabei höchst ideologisch aufgeladener Fassaden verursacht.

Gegen die Behauptung, man verfolge bei der Verkleidung der neuen großen Kontorhäuser mit einer Klinkertapete eine Hamburger Tradition und erfülle einen genius loci, gab es schon immer drei schwerwiegende Einwände. Zum einen kann diese Tradition nur auf den relativ kurzen Abschnitt von 1909-43 und nur auf die südöstliche Altstadt bezogen werden. Vorher fand der Ziegel in der Innenstadt als prägendes Fassadenelement zwar im Speicher- und im Fachwerkbau der Gängeviertel Verwendung. Die Kontorhäuser dagegen waren seit 1886 mit weit repräsentativeren Materialien als dem Arme-Leute-Klinker bestückt.

Zum zweiten war die Backsteinverwendung vor dem Zweiten Weltkrieg ein eindeutig nationalistischer und antimodernistischer Zug. Für das NSDAP-Mitglied Fritz Höger, dessen Chilehaus als das vornehmste Ideenreservoir für Hamburgs neuen Kontorhaus- und Hotelbau-Stil herhält, war der rote Klinker ein „kerndeutscher“ Baustoff, der zur Genesung des germanischen Geistes am Völkischen im Bereich des Bauens am geeignetsten sei. Und auch Fritz Schumachers Verteidigung des roten Steins gegen „alle geilen Instinkte der Unfähigkeit und Anmaßung“, welche die Putzbauten der Moderne angeblich ausdrücken, wässert sich nicht zum geringsten Teil aus nationaler Arroganz.

Zum dritten verband sich mit dieser stofflichen Vereinheitlichung ein Versuch der Harmonisierung des Stadtbildes, der in einer demokratischen Gesellschaft schon von sich aus obsolet sein sollte. Der diktatorische Impetus dieses Vorgehens, der sich auch darin zeigt, daß er von einer kleinen Handvoll Architekten mit ideologischer Rückendeckung des Oberbaudirektors vollzogen wurde, zeigt sich an der Außenhaut der neuen Kontorhäuser jetzt ästhetisch in seiner tristen Eindimensionalität.

Das wertvolle am geistigen Erbe der baukulturellen Reste der Hamburger Vergangenheit kann aber nur „Vielfalt“ sein – und zwar nicht auf einem gehoben-durchschnittlichen Niveau, wie es Oberbaudirektor Kossak als rhetorischer Enkel Fritz Schumachers einst forderte, sondern als Vielfalt der Nutzungen, der Materialien und der ästhetischen Vorstellungen, die sich auf höchstem Niveau um eine architektonische Interpretation unserer Zeit bemühen müssen. Nur so ließe sich ein Kontinuum mit der Vergangenheit herstellen, das sich auf die inspiriertesten Momente bezieht und gleichzeitig nicht vergißt, das man für Menschen an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend baut.