Auf der Suche nach dem Detail

■ Der Arbeiterfotograf Germin wird heute 85 / Ein Porträt von Sven-Michael Veit

Das Wesentliche, sagt er, ist der intuitive Blick. Knipsen könne schließlich jeder, ein gutes Foto jedoch müsse „ausgewogene Schwerpunkte“ haben: „Bilder brauchen eine gewisse Komposition, die einzelnen Teile müssen einen inneren Zusammenhang haben.“

Germin ist Perfektionist, zumindest in Sachen Fotografie. Mehr als vierzig Jahre lang hat er mit seiner Kamera Hamburgs Arbeitswelt nachgespürt, immer auf der Suche nach dem Detail, das dem Foto eine eigenständige Sprache gibt, nach dem Blickwinkel, unter dem sich auch vermeintlich Bekanntes neu und ungewöhnlich darstellt. Im Mittelpunkt immer der Mensch: „Ich habe von Anfang an darauf geachtet, daß auf den Fotos Menschen in Erscheinung traten“, sagt Germin rückblickend. Das mache die Darstellung einerseits lebendiger, vor allem aber sei es eine Frage historischer Wahrheit: „Es ist schließlich der Mensch, in dem sich all das ausdrückt, was Arbeit ist und bedeuten kann. Er hat sie ja erfunden.“

Etwa 80.000 Negative und halb so viele Positive machen Germins Archiv zu einer der wertvollsten zeitgeschichtlichen Dokumentationen der Arbeitswelt in Hamburg zwischen 1932 und 1975. Vor sechs Jahren gab er es aus den Händen, im Museum der Arbeit in Barmbek wird es aufgearbeitet. „Ein Schatz“ sei das, sagt dessen Direktor, Prof. Gernot Krankhagen, „eine der spannendsten visuellen Dokumentationen zur Sozialgeschichte der Hansestadt.“

Heute vor 85 Jahren, am 22. Juni 1910, wurde Gerd Mingram im Arbeiterstadtteil Barmbek geboren. Schon früh wurde Gerd Mitglied der Kommunistischen Jugend, während seiner Lehre als Buchdrucker auch Gewerkschafter. Ein Freund gab Gerds Leben 1932 die entscheidende Wende: Erich Andres, der wohl bekannteste Fotograf Hamburgs. „Erich machte eine Bildreportage über einen Flug mit einem Fesselballon. Er bat mich, ihn beim Aufsteigen zu fotografieren.“ Gerd tat's, und das Foto des abhebenden Freundes, in den „Hamburger Nachrichten“ seinem Wunsch entsprechend unter dem Pseudonym Germin veröffentlicht, brachte ihm 8 Mark und eine Erkenntnis ein: Aus Gerd Mingram wurde der Pressefotograf Germin.

Er begann, Hamburg zu durchstreifen und Begebenheiten aus dem Alltag zu fotografieren. Ende 1934 erhielt er einen Pauschalvertrag als „Bildredakteur in Ausbildung“ bei der Nazi-Zeitung „Hamburger Tageblatt.“ Den Nazis war Germins Vergangenheit wohl bekannt, etliche Male hatte die Gestapo seine Wohnung durchsucht und ihn verhört. „Warum die mich trotzdem einstellten, weiß ich auch nicht“, sagt Germin. Er arrangierte sich, in der inneren Emigration lebend, mit den Machthabern, die ihm nie so recht über den Weg trauten: „Politisches durfte ich nie machen“, erzählt er, „ich habe fast ausschließlich fürs Feuilleton gearbeitet.“

Nach dem Krieg begann Germin zunächst als Theaterfotograf. Im Auftrag des „Hamburger Echo“ und der neugegründeten „Zeit“ war er Stammgast im Thalia-Theater und im Schauspielhaus. Doch 1948 bereits wurde seine „Komödianten-Allergie“, wie er sie nennt, übermächtig: „Ich kannte jede Mimik, jede Geste, wußte genau, was welcher Schauspieler gleich machen würde. Es war einfach langweilig.“

Germin wandte sich wieder dem zu, was er „wirkliche Pressefotografie“ nennt: Bilder, denen man detektivisch nachspüren mußte, auf die man warten mußte, die den Endpunkt eines immanenten Reifeprozesses belegten. Keine Schnappschüsse zufälliger Gegenwart, sondern Bilder einer an einem spezifischen Zeitpunkt angehaltenen Entwicklung. Germin dokumentierte wie kein anderer die Arbeit im Hamburger Hafen, bannte das Innenleben von Getreidebörse und Messingwerken auf Zelluloid, begleitete den Wohnungsbau in den fünfziger Jahren und beobachtete das sich entwickelnde Freizeitverhalten.

Er arbeitete für das KPD-Blatt „Hamburger Volkszeitung“, das 1956 verboten wurde, und für „Unsere Welt“, die bald einging. Danach vor allem für das DGB-Blatt „Welt der Arbeit“ und ein halbes Dutzend Gewerkschaftszeitungen. Immer bemühte er sich, die Integrität seiner Motive zu wahren. Die von der Bild-“Zeitung“ eingeführte Methode, „schamlos und brutal in Intimsphären einzubrechen“, fand er schlicht „abscheulich“. Ende der 40er Jahre, so erinnert sich Germin, war er in Planten un Blomen Zeuge eines Unfalls. Zwei Artisten stürzten mit ihren Motorrädern beim Drahtseilakt ab, Schaulustige und Fotografen umringten die Schwerverletzten. Der Pressefotograf Germin aber „packte die Kamera ein und ging erschüttert nach Hause“.

1975 packte Germin seine Kamera endgültig ein und zog ins Kehdinger Land. Sein Lebenswerk, das in Ausstellungen und reichbebilderten Büchern für heutige Generationen aufgearbeitet wird, hat er dennoch nicht aus dem Blick verloren. Im Museum der Arbeit, in Barmbek, wo er aufgewachsen ist, weiß er seine Fotos in guten Händen: „Es ist das Museum des arbeitenden Menschen. Ich war sein Fotograf.“

Germin-Ausstellung in der Landesbildstelle Kieler Straße, Montag bis Freitag, 7-16 Uhr.