Gleichsam schwebend

■ Kultur, Politik und Theater in Israel: Das russische Emigrantenensemble Gesher, die neue Tel Aviver In-Gruppe, spielt revueartig mit israelischen Befindlichkeiten

Vor zwei Jahren wäre das noch nicht passiert. Im Bus Nr. 10 von Tel Avivs Zentrum in den Süden nach Jaffa sagt die Fahrerin mit Blick auf den Fahrgast, der schon ungeduldig an der Tür steht: „Zum Gesher-Theater an der nächsten Haltestelle raus und dann die Straße runter...“ 1995 hatte das russische Emigrantentheater Gesher (hebräisch: Brücke) gerade mal seine in Eigenleistung renovierte neue Spielstätte bezogen.

Heute pilgert man zu den extravaganten Russen und wird vor der langgestreckten einstigen Lagerhalle unvermittelt damit konfrontiert, daß auf dem Parkplatz überwiegend Nobelkarossen stehen – wie einst an Berlins Halleschem Ufer, als Peter Stein und die Schaubühne dort residierten. Hinter der Gesher-Halle sieht man das Mittelmeer schimmern, irgendwo dort soll der arme Jonas vom Wal verschluckt worden sein.

Das Gesher-Theater ist in Israel ein Begriff. Das hat mit seiner hohen Schauspielkunst zu tun und damit, daß das Theater immer und überall präsent ist. Wie die Sabbatausgabe der Jerusalem Post mit allen Kulturterminen der kommenden Woche belegt, bespielt die Truppe ebenso das Haupthaus, wie sie überall im Land Gastspiele gibt, frei nach dem jüdischen Witz, in dem ein Israeli einen Touristen fragt: „Ah ja, Sie wollen unser Land kennenlernen. Und was machen Sie dann heute nachmittag?“ Die Entfernungen sind nicht groß. Gesher kann seinen Kulturauftrag in der Provinz ähnlich wie deutsche Landesbühnen ohne lange Anreisen erfüllen.

Die neueste Produktion bringt ihre erste Spielstrecke allerdings noch im Stammhaus hinter sich. Der Tag, an dem ich mir „City“ nach Erzählungen von Isaac Babel ansah, hatte es in sich: In Tel Aviv trafen die deutsche und israelische Nationalmannschaft aufeinander, und in der Knesset wurde endgültig der Bau der jüdischen HarHoma-Siedlung mitten im palästinensischen Ost-Jerusalem beschlossen. Als abends der Vorhang im Gesher-Theater hochging, war klar, daß Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weiterhin einen zynischen außenpolitischen Kurs zur Stabilisierung seines wankenden Stuhls einschlagen würde.

Tricky Bibi rettet seine politische Haut um den Preis des brüchigen Friedens im Nahen Osten; anders jedoch, als sich das in den mitteleuropäischen Medien darstellt, bekommt man im Lande selbst kaum etwas davon mit.

Die Regierung wird verachtet

In Israel hat sich Grabesruhe breitgemacht. Daß Har Homa eine zweite Intifada hervorrufen und Netanjahu damit den Friedensprozeß endgültig beerdigen könnte, stößt zwar auf Kritik, vor allem im linksliberalen Milieu. Offene Opposition allerdings gibt es kaum, obwohl Netanjahus Kurs, die Palästinenser mittels Wortbruch zu Gewaltaktionen zu veranlassen, innenpolitische Konsequenzen hat. Er hat erreicht, daß die Rechtsausleger seiner Multiparteienregierung weiterhin stillhalten, gleichzeitig aber wächst die Entfremdung zwischen Staatsführung und Intelligenz des Landes.

Hatte man vor Rabins Ermordung noch den Eindruck, Kultur und Intelligenz stünden hinter ihrer Regierung, trifft man jetzt im Gespräch auf Verachtung. Und immer wieder zeigt sich jenes seltsame Gemisch aus kaum versteckter Kritik am Konfrontationskurs Netanjahus und einem Solidaritätsgefühl, das die Israelis letztlich eint. Über allem steht, von allen Seiten bedroht zu sein. Wenn denn doch Kritik geübt wird, bedient man sich gerne des Wortwitzes: „Sure, Israel wants peace. A piece of Jordan, a piece of Syria...“

Direkten Einfluß allerdings haben Künstler und Intellektuelle auch in Israel nicht. Das Theater etwa ist zwar in ganz anderem Maße als in Deutschland politisiert und arbeitet sich zum Teil in semidokumentarischen Stücken an der eigenen Vergangenheit ab. Das geschieht aber abseits politischer Handlungsfelder.

Joshua Sobol hat gerade eigens für das Gesher-Theater „Village“ geschrieben und schildert darin das Leben in einem israelischen Pionierdorf der 40er Jahre. Im Hintergrund der Holocaust und das mit nationalistischem Pathos angereicherte Sozialismusgehabe der israelischen Gründungsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit diesem Stück geht das Gesher-Theater auf Tournee nach England und Amerika. Nächstes Jahr wird „Village“ auch in deutschen Städten zu sehen sein, Anfang März etwa in Berlin, wo die Gesher-Vorstellung von Yoram Kaniuks Roman „Adam Hundesohn“ Ende 1994 ein Riesenerfolg war: der Holocaust als groteske Zirkusvorstellung. Die neueste Produktion dagegen, „City“, ist derzeit nur im Lande selbst zu sehen und zeigt das hervorstechende Merkmal der Gesher-Produktionen: das revueartige Spiel mit israelischen Befindlichkeiten.

Wird in „Village“ der Aufbaumythos eines Israel der Gründungsjahre karikiert, der noch heute für chauvinistische Überheblichkeit gegenüber den Arabern verantwortlich ist, bewegt man sich mit „City“ in Richtung des chassidisch-ostjüdischen Erbes. Grundlage des Stücks sind Isaac Babels Odessa-Erzählungen.

Jewgeni Arye, Regisseur und künstlerisches Herz der Truppe, hat die Geschichten allerdings entschieden gegen den Strich gebürstet. Er konterkariert den subtilen Erzählstil Babels, der sich in der stalinistischen Sowjetunion der 30er Jahre lange Zeit nur dank Maxim Gorkis Protektion halten konnte und nach dessen Tod im Juni 1936 deportiert und ermordet wurde.

Ahnenforschung im Gangstermilieu

Babel tauchte mit seinen Erzählungen in die Stimmung seiner Geburtsstadt und des jüdischen Elternhauses ein und erzählte die autobiographischen Geschichten mit dem wachen Blick eines jüdischen Jungen, der sich der Lüge der Welt gegenübersieht: Alles ist Inszenierung, selbst jäh einbrechende Pogrome stellen sich wie auf einer Bühne dar.

Arye transportiert dies in die grobe Atmosphäre eines jüdischen Gangstermilieus. Was in den Erzählungen am Rande auftaucht – die kleinen Schieber, Huren und Gansterbosse Odessas –, hat der Regisseur ins Zentrum gerückt, als wollte er heutigen Israelis sagen: Seht her, auch hier liegen eure Wurzeln.

Hauptfigur ist Benya Krik, der sich vom jung-ambitionierten Banditen zum Gansterboß hocharbeitet. Igor Mirkurbanow, der schon in „Adam Hundesohn“ die Hauptrolle spielte, gibt das derart phänomenal maniriert, daß man ihn für einen Eintänzer im Paris oder Berlin der zwanziger Jahre halten könnte. Überall lauert untergründige Ironie, eine Doppelbödigkeit, die die Bühne im technisch perfekt ausgestatteten neuen Haus illustriert: Gleichsam schwebend wurden Schienen verlegt, die Akteure fahren vollelektronisch auf kleinen Loren in Positur, darunter lauern Odessas Abgründe.

Direkten Bezug zum aktuellen Israel stellt Jewgeni Arye vor allem in einer Szene her. Der aufstrebende Gangster Benya Krik erregt sich mit seinen Brüdern über den Vater, der das Geld der Familie mit einer jungen Geliebten verpraßt. In jüdische Gebetsmäntel gehüllt stehen die drei da, machen die typisch schaukelnden Gebetsbewegungen und intrigieren dabei mächtig. Interessenpolitik unter dem Deckmantel der Religion – wie im wirklichen israelischen Leben.

Geshers neueste Inszenierung entläßt die Zuschauer erst gegen Mitternacht. Man steht wieder im Mittelmeerhafen und denkt an Jonas, der alleine schon deshalb hier vom Wal verschlungen worden sein muß, damit Christen und Juden mit einem hellenischen Mythos konkurrieren können: Am Andromeda-Felsen im Hafen soll Andromeda von ihrem Vater, König Kepheus, angekettet worden sein, auf daß sie von einem wilden Meeresungeheuer verschlungen werde. Gerettet hat sie Zeus-Sohn Perseus, König von Mykene, der sie als Gattin mit nach Griechenland nahm.

Das allerdings kratzte Berti Vogts und seine Jungs eher weniger, die an diesem Abend einen grauen Arbeitssieg eingefahren hatten und bereits wieder im Flugzeug saßen. Sie bekamen auch nicht mit, was sich ihre Fans in den folgenden Tagen im Hinterland leisteten. Einen Auftritt in der Ein- Gedi-Jugendherberge am Toten Meer zum Beispiel, als eine Gruppe aus Essen im Speisesaal pöbelte. Andere deutsche Touristen, die einen der lallenden Fans zur Räson bringen wollten, wurden umstandslos abgekanzelt mit der Frage: „Was seid denn Ihr für Deutsche?“ Jürgen Berger