Viel Applaus auf leere Mägen

Die Suhler Philharmoniker haben ihren Probenraum zum Matratzenlager umfunktioniert und hungern für den Erhalt ihres Orchesters. Die Stadt und das Land Thüringen streiten sich um die Finanzierung  ■ Aus Suhl Heide Platen

Gegeben wurden das Violinkonzert G-Dur von Mozart, die Sinfonie Nr. 44 e-Moll von Haydn, auch „Trauersinfonie“ genannt, und ein Brief des Suhler Oberbürgermeisters Martin Kummer (CDU). Den hatte er im Lauf eines turbulenten Tages aus seiner Stadt im Süden Thüringens nach Erfurt in die Landeshauptstadt geschickt.

Empfänger war das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur. „Ihre Arbeitnehmer (Philharmoniker)“, maulte der Oberbürgermeister, führen in den „vom Freistaat angemieteten Räumen des Hauses Philharmonie Suhl derzeit einen sogenannten ,Hungerstreik‘ durch“. Diese unsachgemäße Nutzung der Mietsache wolle er nach sieben Tagen nicht länger hinnehmen. Deshalb fordere er das Ministerium auf, diesen Zustand „unverzüglich, spätestens binnen 24 Stunden“, zu beenden und „die besetzten Räumlichkeiten geräumt“ herauszugeben. Denn zum „Zwecke der Durchführung eines Arbeitskampfes“ habe die Stadt Suhl dem Land Thüringen das Haus Philharmonie in der Innenstadt schließlich nicht vermietet. Ansonsten drohe er, Kummer, dem Ministerium eine fristlose Kündigung des Mietvertrags, Schadenersatzforderungen und den Rausschmiß des Orchesters an.

Das Publikum im vollbesetzten Konzertsaal der Philharmonie quittierte die Verlesung des Briefes am Mittwoch abend mit Buhrufen. Auf der Bühne fragte der Dirigent Gernot Schulz, wie unter solchen Bedingungen „noch zu musizieren sei“. Die Musik spielte trotzdem, Geigen, Hörner, Celli, brillant und zart. Die MusikerInnen in Cut und schwarzgrauen Kleidern verneigten sich, gingen und kamen nicht wieder auf die Bühne: „Wir können nicht mehr tun, jetzt sind andere an der Reihe.“ Das Publikum applaudierte minutenlang stehend vor leeren Notenständern.

Der Abgang gelang so drastisch wie jene „Abschiedssinfonie“, die Joseph Haydn im 18. Jahrhundert komponierte, um seinen Musikern beim Fürsten Esterhazy die lang verdienten Urlaubstage zu verschaffen. Nach Haydns Partitur hatten seine Orchestermusiker nach und nach ihre Instrumente niedergelegt, die Sinfonie endete mit dem letzten, der ging.

Der Arbeitskampf der Suhler MusikerInnen findet im Probenraum des Orchesters statt, im zweiten Stock des Kulturhauses, mitten in Suhl, der ehemaligen Bezirksstadt: ein alter Stadtkern und Plattenbauten in erzwungener Nachbarschaft in einem langgestreckten Tal. Auf den Stufen des Probenraums lagern in Jogging- und Schlafanzügen, in karierten Pantoffeln und Hausschuhen seit über einer Woche 20 der 74 Mitglieder des Orchesters. Dazu kamen der Vorsitzende des Thüringer Schriftstellerverbandes, Landolf Scherzer, und der Bildhauer Herbert König. Der Lyriker Wulf Kirsten schrieb eine Solidaritätsadresse, die von zahlreichen KünstlerInnen unterzeichnet wurde.

Unter dem „Hungerstreik“- Transparent blickt traurig ein Stoffbernhardiner hervor, auf einem Schlafsack sitzt ein Teddybär. Im ganzen Raum stehen Blumen, fast wie zu einer Beerdigung, und täglich bringen BesucherInnen neue Sträuße. Die kommen alle in die Plastikwasserflaschen, mit denen die Streikenden ihren Flüssigkeitsbedarf decken. An den Wänden kleben flächendeckend Grußadressen und Durchhalteparolen von Orchestern aus aller Welt. Die Berliner Singakademie hat für morgen ein Solidaritätskonzert in der Hauptkirche nebenan angekündigt: Johannes Brahms „Ein deutsches Requiem“.

Täglich kommt ein Arzt vorbei. Der betont: „Die Untersuchungen sind freiweillig.“ Das muß er auch, nachdem bereits ein anderer bürgermeisterlicher Brandbrief im Erfurter Ministerium für Irritation gesorgt hatte. „Der wollte uns wohl“, grummelte ein Musiker, „gleich in die Psychiatrie zwangseinweisen lassen.“

Der Soloklarinettist Andreas Minski steht am Eingang, übernächtigt, müde im Gesicht, und nimmt eine Besucherin, die in Tränen ausbricht, in den Arm. Sie ist aus Solidarität mit den Musikern gekommen, und weil man dasselbe Schicksal teilt. „Wir haben nichts getan und uns alles gefallen lassen“, sagt sie und wirft Geld in die Spendendose. Seit Ende 1995 ist sie arbeitslos, entlassen bei der Sparkassen-Fusion in der ehemaligen Bezirkshauptstadt Suhl, die zu DDR-Zeiten nicht nur als Waffen-, sondern auch als kommunistische Kaderschmiede galt. „Wer kämpft“, sagen die Musiker nun, „kann verlieren.“ Aber: „Wer nichts tut, hat schon verloren.“

Sie alle haben seit dem Sommer des vergangenen Jahres die Kündigung zum 31. Juni 1997 in der Tasche. Ihr Hungerstreik ist der vorläufige Höhepunkt im Gerangel zwischen Stadt und Land um die Existenz eines der besten B-Orchester der Bundesrepublik. Das Land, das alle Theater und Orchester Thüringens kommunalisieren will, hatte zuletzt immer noch die Hälfte des Etats, 3,5 Millionen Mark, zur Verfügung gestellt. Die Stadt verschleppte, trotz mehrerer gegenläufiger Stadtratsbeschlüsse, die Zahlungen. Ein Vorschlag zum Einlenken, gekoppelt mit einem städtischen Zuschuß von einer Million Mark für 1997 und 1,5 Millionen Mark bis zum Jahr 2002, war für die Musiker dann nicht mehr akzeptabel. Orchesterleiter Bodo Dresen: „Das wäre das Aus für uns.“

Er ist von seinen Kollegen dazu verdonnert worden, mit dem Fasten aufzuhören, und hat sich „zähneknirschend“ gefügt: „Einer von uns muß noch verhandlungsfähig bleiben.“ Und das ist auch nötig, denn Andreas Minski verliert bei einer mittäglichen Pressekonferenz den Faden, bei der er eigentlich sagen wollte, daß es ihnen nicht ums Geld gehe, sondern um den Umgang mit der Kultur überhaupt, um „Unkultur in der Politik“ und darum, daß das Schließen eines „gewachsenen Orchesters ein barbarischer Akt“ sei, weil dann gemeinsame Erfahrung und Qualität unwiederbringlich verloren seien. Statt dessen verstummt er, reibt sich die Augen, sein Gesicht sinkt immer wieder leicht in Richtung Tischplatte.

Dresen nimmt den Faden mit leiser Stimme wieder auf: „Das hier ist kein Schauspiel. Wir meinen es bitterernst!“ Und dann geht es doch ums Geld. Während die Suhler in der Fußgängerzone Unterschriftenlisten ausfüllen, habe er festgestellt, daß abenteuerliche Gerüchte über das Gehalt der Musiker in der Stadt gestreut werden. Die mit ihren großen Brieftaschen sollten doch erst mal bei sich selber sparen. Das aber hätten sie bereits bei Stellenstreichungen bis zur Schmerzgrenze getan. Weitere Kürzungen würden das Orchester weit unter sein bisheriges Niveau drücken und überflüssig machen: „Dann könnten wir nur noch sang- und klanglos verschwinden.“

Außerdem, so Dresen, „werden wir nach Tarif bezahlt“. Und das sind für Ostmusiker zwischen 2.210 und 3.443 Mark brutto. Davon lassen sich kaum Millionenbeträge zusammensparen. Die sind in Suhl anderswo angelegt. Wütend starrt ein junger Hornist aus dem Fenster auf das gelbe Gebäude gegenüber, vorne eine Hamburger-Braterei, innen Läden, Kongreßräume und ein Saal für 2.500 Zuschauer. Das neue Congreß Centrum Suhl (CCS) ist die, im Kern umbaute, alte Stadthalle von Suhl, ein Prestigeprojekt mit hohem Leerstand, auch „Kummerkasten“ genannt. Kosten für die Kommune: über elf Millionen Mark jährlich und ein Mietkaufvertrag, der erst in 30 Jahren ausläuft.

Die Vorgeschichte der Immobilie ist ein provinzielles Trauerspiel, das den Beteiligten im Stadtparlament über den Kopf wuchs, als ein Spekulant aus dem Geschäft wieder ausschied. Seither gehört das Haus den Banken, die es der Stadt vermietet haben. Daß eine Küche für die potentiellen Kongreßteilnehmer vergessen wurde und teuer ergänzt werden mußte, ist nur eine der Pikanterien. Der Konzertsaal des CCS ist überdimensioniert und sei, so der Hornist, für klassische Musik ungegeignet: „Das hat gerade für die Wildecker Herzbuben gereicht.“

Die Bühne des Konzertsaales im Haus Philharmonie dagegen ist seit einem Monat baupolizeilich gesperrt. Die Musiker drängen sich seither auf der Vorbühne. Das ist für sie „kein Zufall“: „Wir werden hier systematisch fertiggemacht.“

Bang harrten die MusikerInnen nach dem Konzert am Mittwoch abend auf eine neue Nachricht aus dem Rathaus. Dort hatte der Stadtrat unter Ausschluß der Öffentlichkeit getagt. Die Hoffnung auf ein Einlenken des Oberbürgermeisters und seiner Mehrheit aus CDU und Freien Wählern war vergeblich. Statt dessen hatte Kummer ausgerechnet den Ordnungsdezernenten verkünden lassen, er wolle keinesfalls eine polizeiliche Räumung des Orchesters. „Diesen schwarzen Peter“, so ein Hornist bitter, „hat er ja erst mal dem Land zugeschoben.“

Martin Kummer allerdings ist ein Mann, der sich seinen GegnerInnen stellt. Am Donnerstag morgen tauchte er bei den Hungerstreikenden auf, volkstümelte vor Kameras, daß doch schließlich „alle sparen“ müßten. Seinen Besuch begründete er indes eher innovativ. Er wolle die „Räume besichtigen“, die „demnächst leer werden“. Für die Immobilie Kulturhaus und Philharmonie, den Klotz in neoklassizistischem Stil, interessiere sich bereits ein Investor, der dort ein Kinozentrum einrichten wolle.

Inzwischen ist die Thüringen- Philharmonie in der Erfurter Staatskanzlei zur Chefsache erklärt worden. Die Orchestervereinigung hat sich als gewerkschaftliche Vermittlerin zwischen Stadt und Land eingeschaltet. Orchesterleiter Bodo Dresen sah gestern dennoch nur einen „kleinen Silberstreifen am Horizont“. Immerhin habe der Oberbürgermeister ja den Stadtratsbeschluß, dem Orchester weiterhin 1,5 Millionen Mark jährlich zu zahlen, unterschrieben. Ein privater Investor habe Hilfe angekündigt, und auch umliegende Gemeinden und der Landkreis seien eventuell bereit, der Kultur in Suhl beizuspringen. Dresen: „Das ist aber noch zu vage. Wir hungern weiter.“