"Kanzler wird man nicht auf dem Papier"

■ Schröder vor Lafontaine? Dieter Roth von der Forschungsgruppe Wahlen über den Wert der aktuellen Meinungsumfragen zur SPD

taz: In allen aktuellen Meinungsumfragen, welcher Kanzlerkandidat der SPD größere Chancen gegen Helmut Kohl hätte, liegt Gerhard Schröder mit großem Vorsprung vor Oskar Lafontaine. Ist das Rennen für Schröder schon gelaufen?

Dieter Roth: Überhaupt nicht. Die aktuellen Daten lassen einen solchen Schluß nicht zu. Oskar Lafontaine polarisiert als Parteichef der SPD stark. In den eigenen Reihen wird er sehr positiv bewertet, von seinen Gegnern bekommt er sehr negative Urteile; Helmut Kohl im übrigen wird ähnlich beurteilt. Gerhard Schröder dagegen bekommt als erfolgreicher Ministerpräsident fast nur positive Bewertungen, auch von seinen Gegnern. Das wird sich schlagartig ändern, wenn Schröder als Kanzlerkandidat gegen Kohl antritt. Dann bekommt er starken Gegenwind.

Welchen Wert haben solche Meinungsumfragen 18 Monate vor einer Bundestagswahl?

Sie sind relativ unerheblich. Sie zeigen lediglich die Stimmung im Moment an. Sie können daraus keine Schlüsse für den Herbst 1998 ziehen. Erinnern Sie sich nur mal an die letzte Wahl: 1993 lag Scharping in den Umfragen deutlich vor Kohl. Was ein Jahr später rauskam, wissen wir ja.

Die aktuelle Bewertung der Chancen von Schröder und Lafontaine sind das Ergebnis von Blitzumfragen ein, zwei Tage nach der Entscheidung Kohls, wieder als Kanzlerkandidat anzutreten. Wie repräsentativ sind die Resultate solcher Umfragen?

Blitzbefragungen sind methodisch eher problematisch. Die Bevölkerung ist unterschiedlich mobil; bei Umfragen an einem einzigen Tag erreichen Sie aber nur ganz bestimmte Wählerschichten, meistens die immobilen. Seriöse Ergebnisse über die Wirkungen von Kohls Kandidatur lassen sich erst mit Umfragen erzielen, die mindestens eine Woche nach seiner Erklärung durchgeführt worden sind. Aber die Medien wollen ja oft die Reaktion auf ein Ereignis schon vor dem Ereignis selbst haben. So kommt es zu Umfrageergebnissen, die nur sehr eingeschränkt glaubwürdig sind.

Die SPD möchte an ihrem Fahrplan festhalten und ihren Kanzlerkandidaten erst 1998 benennen. Hält die Partei das durch?

Der Druck der Medien – nicht der Öffentlichkeit insgesamt, die gibt sich mit sinnvollen und logischen Erklärungen oft zufrieden – wird sehr stark werden. Es ist also zu bezweifeln, daß die SPD bis zur Wahl in Niedersachsen nächstes Jahr im März warten kann.

Damit ist aber nicht gesagt, daß eine solche schnelle Entscheidung auch notwendig wäre.

Nein. Sachlich spricht nichts dafür.

Es wird immer wieder behauptet, die Wähler würden von der SPD wissen wollen, woran sie sind, also müsse die Partei jetzt ihren Kandidaten benennen. Erwarten das die Wähler wirklich?

Die Wähler wollen schon frühzeitig wissen, welche Personen gegeneinander antreten. Aber diese Erwartungen werden immer durch die Medien vorgetragen, so daß die Wähler am Ende nicht mehr so genau wissen, ob es eigentlich noch ihre Erwartungen sind oder nicht die der Medien. Sinn macht eine frühe Festlegung auf einen Kandidaten immer dann, wenn dieser noch nicht so bekannt ist und einen langen Anlauf benötigt. Das war bei Scharping 1993 so. Auf Schröder und Lafontaine trifft das überhaupt nicht zu. Die SPD müßte also ihren Kanzlerkandidaten nicht jetzt ins Rampenlicht stellen, sie könnte warten.

Ist der Einfluß der Medien mittlerweile so groß, daß aus ihren Wünschen Realität wird? Ist Gerhard Schröder, unabhängig von der Entscheidung der SPD, durch die Medien nicht bereits zum Kanzlerkandidaten geworden?

Parteien müssen sich den Medien nicht hilflos ausliefern. Die SPD hat es selbst in der Hand. Es kommt auf ihr Geschick und ihr Management in dieser Frage an.

Schröder ist also noch nicht Kanzlerkandidat?

Nein, das ist die Auslegung der Medien ihrer eigenen Realität: Da wird jede kleinste Regung im Gesicht von Schröder als Entscheidung interpretiert.

Welche Kriterien sind für Wähler wichtig, sich so oder so zu entscheiden? Ist die Bindung an eine Partei ausschlaggebend oder das Charisma des Kandidaten?

Viele Wähler sind nach wie vor strukturell und von ihrer Sozialisation her an eine Partei gebunden. Das ist für die Wahlentscheidung oft ausschlaggebend. Diese Grundhaltung muß aber durch andere Momente verstärkt werden: Die Partei muß die Interessen des Wählers vertreten, und an ihrer Spitze dürfen keine Personen stehen, die den Wähler abschrecken.

Ist es in Zeiten des Medienwahlkampfes und der Parteienverdrossenheit nicht von Vorteil, keinen Stallgeruch zu haben?

Nicht unbedingt. Kanzlerkandidaten, seien sie auch noch so charismatisch, haben ohnehin nur wenig Chancen, massenhaft völlig neue Wähler zu gewinnen. Sie können bereits bestehende Bindungen an eine Partei verfestigen, und sie können Wähler, die noch unentschieden sind, für sich gewinnen. Für die Union, die ein größeres Wählerreservoir hat als die SPD, reicht es also oft schon, ihr eigenes Potential zu mobilisieren. Die Sozialdemokraten dagegen brauchen immer einen Kandidaten, der durch seine Popularität über die eigenen Reihen hinaus wirkt.

Also ist Schröder doch der bessere Kandidat.

Dazu werden Sie von mir nichts hören. Nur so viel: Wenn die SPD dem Mehrheitswillen der Bevölkerung folgen wollte, dann müßte sie Schröder nominieren. Die Frage ist nur, ob er das größere Potential dann auch mobilisieren könnte. Bundeskanzler wird man nun mal nicht auf dem Papier. In der Politik gibt es viele Unwägbarkeiten. Interview: Jens König