■ Polnischer Sejm verabschiedet „Lustrationsgesetz“
: Das kleine Monster

Akten auf oder Akten zu? Die Frage, wem die Dossiers der realsozialistischen Inland-Geheimdienste nach der Wende zugänglich gemacht werden sollten, wurde im ehemaligen „Ostblock“ unterschiedlich gehandhabt. Die Variationsbreite reicht von einer weitgehenden Identität des neuen Sicherheitsdiensts mit dem alten KGB im Fall Rußlands bis zur Liquidierung des Staatssicherheitsdiensts der DDR und zum Recht der Opfer auf Akteneinsicht.

In Polen war der Lösungsweg durch den „Runden Tisch“ und durch die Politik des „dicken Schlußstrichs“ der ersten Solidarność-Regierung geprägt. Das Prinzip „Akten zu!“ sollte allerdings nicht für die Verfolgung schwerwiegender Straftaten ehemaliger Geheimdienstler gelten. In der Praxis freilich wurde selbst bei Strafverfahren die Akteneinsicht und die Freigabe von Zeugenaussagen ehemaliger Sicherheitsleute sehr restriktiv gehandhabt. Ein Motiv dabei war sicherlich der „Komplex Walesa“. Um dessen einstige Zuträgerdienste für den polnischen Geheimdienst wollten die Gerüchte nicht verstummen.

Zwar wurden schon 1990 die Angehörigen des Sicherheitsdiensts einer individuellen Überprüfung unterzogen und eine Reihe demokratischer Oppositioneller in die „Dienste“ versetzt. Aber in den entscheidenden Monaten nach der Wende blieb genug Zeit, den Aktenbestand zu säubern. Anders als in der vormaligen DDR kann deshalb heute in Polen nicht mehr die Rede davon sein, daß sich aus den Unterlagen ein zutreffendes Bild der Kollaboration polnischer Bürger mit der „Sicherheit“ rekonstruieren ließe.

Gegen den jetztigen Gesetzentwurf zur „Lustration“ stimmte die Regierungspartei SLD (d.h. die Wendekommunisten). Ihr Koalitionspartner, die Bauernpartei PSL, war gespalten, was dem Gesetz zur Mehrheit verhalf. Der Präsident Kwaśniewski, der im Wahlkampf noch das Fehlen eines Lustrationsgesetzes beklagt hatte, schweigt. Aus seiner Umgebung ist der Entwurf als „kleines Monster“ tituliert worden. Sicher aus Selbstschutz, aber dennoch nicht ganz zu Unrecht. Denn das Gesetz leidet an einem doppelten Geburtsfehler: Es kommt viel zu spät und Halbherzigkeit ist ihm auf die Stirn geschieben. Der Wahrheitsfindung wird es kaum dienen können, wohl aber der Demagogie der Nationalisten, die sich im kommenden Wahlkampf unter dem Banner der „Dekommunisierung“ mit frei flottierenden Akten munitionieren werden. Christian Semler