Militärischer Drill im Jugendwerkhof Torgau

■ Ein informativer Sammelband zur geschlossenen Jugendfürsorge in der DDR

Den Tagesablauf von Torgau kann „Jugendlicher Schubart“ noch heute auswendig: Wecken um 5.30 Uhr, Appell, Frühsport, Bettenbauen, Revierreinigen, noch ein Appell, Frühstück, Produktion, Mittagessen, Produktion. Während der „Freizeit“ wurde das Neue Deutschland gelesen und abgefragt, nach dem Abendbrot kam die Aktuelle Kamera dran. Abschlußappell. Zu den täglichen kamen die außergewöhnlichen Schikanen. Weil Schubart angeblich nicht verhindert hatte, daß andere Jugendliche rauchten, wurde er für 14 Tage in einer Dunkelzelle in Einzelhaft gehalten. Gängiges Bestrafungsmittel war auch Sport bis zur körperlichen Erschöpfung. Der 17jährige galt nach einer Jugendstrafe in Dessau wegen Körperverletzung als schwer erziehbar. Deshalb mußte er neun Monate im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau in Sachsen verbringen, wo ihm mit militärischen Drill Disziplin beigebogen werden sollte.

Schubart war einer der insgesamt 5.000 Jungen und Mädchen, die sich der rigiden Hausordnung von Torgau unterwerfen mußten, bis die Einrichtung im November 1989 Hals über Kopf aufgelöst wurde. Die Jugendlichen waren nicht straffällig geworden, nicht per richterlichen Beschluß eingewiesen, sondern hatten in anderen Heimen lediglich gegen die Hausordnung verstoßen, etwa die Schule geschwänzt oder bei der Arbeit gebummelt. Für den rechten Kasernenhofton sorgten ausgediente NVA-Offiziere, die als „Betreuer“ vor allem eines lehrten: „Strafe ist eine Form der Erziehung.“

Wessen Jugend in der DDR unter der Obhut des Referats Jugendhilfe des Ministeriums für Volksbildung verlief, erfuhr die dunkle Seite eines Erziehungssystems, das zwar für jedes Kind einen Kindergartenplatz stellte, aber individuelle Abweichung als ein Verbrechen bestrafte. In den Jugendwerkhöfen sollten schwererziehbare Jugendliche ihr „gesellschaftwidriges Verhalten“ revidieren, „zur Arbeit durch Arbeit“ erzogen werden. Wer sich diesem Reformpädagogik genannten Zwangssystem gegenüber als „renitent“ erwies, erlebte in Torgau den Tiefpunkt kollektiver Erziehung. In einem Ort mit einer langen Tradition militärischer Gefängnisse.

Daß Torgau den Zwang zur bedingungslosen Unterwerfung bedeutete, zeigt die vom Brandenburger Bildungsministerium herausgegebene Dokumenten- und Textsammlung verschiedener Autoren über die autoritäre Jugendfürsorge in der DDR ausführlich. Es ist der vierte Band einer Publikationsreihe über Geschichte, Struktur und Funktionsweise der DDR-Volksbildung. Im Band enthalten sind viele Interviews mit früheren Insassen und ErzieherInnen von Torgau und anderen Jugendwerkhöfen, in denen sich ein erschreckender Reglementierungseifer mit pädagogischer Unbedarftheit paart.

Die Interviews mit den Jugendlichen zeigen, wie verängstigt die Jugendlichen waren und wie unerreicht dabei sozialistische Bildungsziele blieben. Davon zeugen die vielen Hakenkreuze und rechtsradikalen Inschriften an den Wänden der Zellen. Nicht nur ein straff durchorganisierter Tagesablauf, sondern auch ein ausgeklügeltes System von Regelungen, Verboten und Pflichten sorgte dafür, daß „Verstöße gegen die Hausordnung“ unvermeidlich waren, die unverzüglich mit Einzelarrest bestraft wurden. Schon der Blickkontakt zur Gruppe des anderen Geschlechts reichte aus. Der siebenseitige Strafaufsatz eines jugendlichen Fürsorgezöglings über Schnürsenkel ist mittlerweile zum Synonym geworden für das autoritäre System der Jugendfürsorge in der DDR, für Disziplinierung, Reglementierung und sinnlose Bestrafungsrituale.

Die Beiträge verschiedener Autoren, u.a. von der früheren Leiterin der Gedenkstätte Torgau, Brigitte Oleschinski, oder von Falk Blask beschreiben eingängig die Geschichte des Ortes Torgau. Unverständlich ist, daß dieses sehr informative Buch an einem entscheidenden Punkt versagt, nämlich wenn es darum geht, die Jugendhilfe der DDR politisch einzuordnen und ihre Heimerziehung als zum Scheitern verurteilten Disziplinierungsversuche herauszustellen. Statt dessen versucht der Autor dieser Kapitel, Gerhard Jörns, zu verharmlosen und zu entschuldigen. Thekla Dannenberg

Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.): „Einweisung nach Torgau. Texte und Dokumente zur autoritären Jugendfürsorge in der DDR“. Basisdruck, Berlin 1997, 272 Seiten, 38 DM