■ Gegen Massenarbeitslosigkeit helfen nur radikale Maß- nahmen: zum Beispiel die gesetzliche 32-Stunden-Woche
: Weniger arbeiten muß sich lohnen

In den USA kursiert das politische Bonmot, Rezession herrscht, wenn der Nachbar arbeitslos ist, Depression, wenn es einen selber trifft; in Wahrheit wachsen Massenarbeitslosigkeit und Unternehmensgewinne gleichermaßen. Seitdem die Erinnerung an die Zerstörung der Weimarer Republik nicht mehr schreckt und die Wirtschaft trotz eines Millionenheers von Arbeitslosen und der Standort-Deutschland-Hysterie prosperiert, scheint die politische Klasse ihren klammheimlichen Frieden mit der Massenarbeitslosigkeit geschlossen zu haben. Dennoch bleibt der Öffentlichkeit die Beschwörung der Überwindung der Arbeitslosigkeit als politische Floskel erhalten, weil der fortschreitende Abbau der sozialen Demokratie aufgewertet werden muß als notwendige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung – ohne den es wiederum keinen Abbau der Massenarbeitsosigkeit geben könne. Fordern zum Beispiel die Gewerkschaften höhere Löhne, um den Anschluß an die Produktivitätssprünge und Gewinne in den Unternehmen nicht völlig zu verpassen, diskreditieren die Arbeitgeberfunktionäre dies als unsolidarische Klientelpolitik zugunsten der „Arbeitsplatzbesitzer“ auf Kosten der Arbeitslosen. Es ist gerade so, als gehörten die Maschinen denjenigen, die an ihnen täglich schuften dürfen.

Auch die Opposition hat bisher nicht den Eindruck erweckt, daß sie die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit forcieren will. Einige 68er-Linke sind der „Globalisierungslegende“ („Arbeit wird billig wie Dreck“) aufgesessen und vertrösten auf eine nebulöse globale Wende. Andere sind noch von ihrer linken Vergangenheit paralysiert, in der sie den Sozialstaat als selbstverständlich voraussetzten, sich in radikaler Ablehnung des BRD-Staates übten und in abstrakten Schlachten Kapitalismus versus Sozialismus trainierten. Heute mangelt es an einer zivilgesellschaftlich verankerten demokratischen Linken mit dem politischen Credo: Persönliche Freiheit ist ohne soziale Sicherheit nicht zu haben – und vice versa.

Es ist plausibel, daß innerhalb einer solchen politischen Philosophie das Konzept eines erwerbsunabhängigen Grundeinkommens einen Platz hat, und es wird auch verstärkt als Möglichkeit diskutiert, Menschen in Zeiten des „Verschwindens der Arbeit“ ein anständiges Leben zu ermöglichen. So sympathisch dieses Konzept ist, so problematisch wird es, wenn man es als Ersatz für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit überfordert. Denn eine Abkopplung der sozialen Sicherheit von Erwerbsarbeit wird in einem gesellschaftlichen Klima des forcierten Leistungsethos und Wettbewerbs in großer Gefahr stehen, in die Armutsspirale zu führen – die verbliebenen Beitragszahler werden sich wenig gönnerhaft zeigen.

Was tun gegen die Arbeitslosigkeit? In Deutschland steigt die Produktivität ständig. Immer weniger Menschen stellen immer mehr Produkte her – und für die Erwirtschaftung des steigenden Sozialprodukts werden immer weniger Menschen gebraucht. Nicht die Globalisierung ist an der wachsenden Arbeitslosigkeit schuld (sie hat im Gegenteil die kontinuierlich steigenden Exporte der deutschen Wirtschaft erst ermöglicht). Schuld ist das gesellschaftliche Arrangement in Deutschland, die noch benötigte Arbeit für das nach wie vor wachsende Bruttosozialprodukt nicht gerecht zu verteilen. Eine Umverteilung von Arbeit setzt ein neues Verständnis von Vollbeschäfitung voraus und läuft auf eine Verkürzung der Arbeitszeit hinaus. Das hat Zwickels Vorstoß für eine 32-Stunden-Woche wieder ins öffentliche Bewußtsein bringen wollen – die Debatte darf erneut beginnen.

Entgegen aller Abschreckungsaktivitäten gibt es keine objektiven, betriebswirtschaftlichen oder produktionstechnisch bedingten Grenzen für eine gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung – dies mag in anderen Ländern anders sein. Zu den Vorsprüngen des vielgescholtenen Standorts Deutschland gehört die solide Ausbildung nicht nur einer Elite, sondern nahezu der gesamten erwerbsfähigen Bevölkerung. Von den Arbeitslosen waren 1994 nur knapp 13 Prozent ohne jeglichen Ausbildungsabschluß. Die Voraussetzungen, einen Großteil der Arbeitslosen in den Betrieben für die spezifischen Anforderungen mit staatlicher Finanzierung nachzuqualifizieren, wären grundsätzlich gegeben – wenn der gesellschaftliche Wille vorhanden wäre.

Wir brauchen, kurzum, ein neues Arbeitszeitgesetz. Noch 1994 hatte die Kohl-Regierung verlautbart, für Arbeitszeitbeschränkungen aus arbeitsmarktpolitischen Gründen sei das Arbeitszeitgesetz nicht das geeignete Regelwerk. Statt dessen ersetzte sie sogar die 48-Stunden-Woche zugunsten der 60-Stunden-Woche. Seitdem wirkte das Arbeitszeitgesetz geradezu als Anreizsystem für Überstunden. Betriebsräte und Gewerkschaften konnten dem Druck der Unternehmen immer häufiger nicht standhalten.

Ein neues Arbeitszeitgesetz sollte deshalb die tariflich erreichte wöchentliche Arbeitszeit gesetzlich sanktionieren und mindestens die gesetzliche 40-Stunden-Woche einführen, wie beispielsweise in Österreich 1969 oder Schweden 1973. Darüber hinaus könnte ein neues Arbeitszeitgesetz den Unternehmen ein Anreizsystem bieten, das für die Produktion benötigte Arbeitsvolumen auf mehr Mitarbeiter umzuverteilen und dabei in den Sozialversicherungssystemem belohnt („Bonus“) bzw. für Überstunden bestraft zu werden.

Ein solches Bonus-Malus-System könnte zum Beispiel eine 32,5-Stunden-Woche als Referenzsystem zum Ausgangswert nehmen. Es würde die Unternehmen für Arbeitsplätze mit tieferer Stundenzahl als die 32,5 Wochenstunden (gerechnet auf Jahresbasis mit einer maximal zulässigen wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 40 Stunden) durch eine Verringerung der Lohnnebenkosten belohnen, während es die Arbeitsplätze über der 32,5-Stunden-Woche bei den Lohnnebenkosten zusätzlich belasten würde. So würde eine neue Form von Vollbeschäftigung angeregt werden (mit einer Untergrenze oberhalb von Teilzeitarbeit und eines Mindestlohnverdienstes). Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften bliebe dabei genug Spielraum, ihre Tarifautonomie neu auszutarieren. Wer weiterhin mangelnde Solidarität mit den Arbeitslosen beklagt, ohne neue politisch-rechtliche organisierte Rahmenbedingungen zu schaffen, mag sein Bild vom „egoistischen Menschen“ kultiviert haben. Mit politischer Aufklärung hat dies nichts zu tun. Ingo Zander