Artistik längs der Dinglichkeit

■ Sie kommt aus dem Berliner Off, tourt weltweit und wurde jetzt mit "Allee der Kosmonauten" zum Theatertreffen eingeladen: Ein Porträt der Choreographin Sasha Waltz

An dem Vormittag, an dem ich Sasha Waltz in den Sophiensälen in Berlin-Mitte treffe, beschäftigt sie eine ungewöhnliche Form der Anerkennung mehr als die Ruhm versprechende Einladung zum Theatertreffen. H., langjähriger Hausmeister des alten Versammlungshauses, in dem Waltz Proben- und Aufführungsräume gefunden hat, ist vorbeigekommen, um ihr 100 Mark zu schenken. Zurückweisung wäre Beleidigung. Trotzdem ist Sasha Waltz verlegen, denn H. hat selbst nicht viel Geld.

Die Autorität einer Compagnie-Chefin liegt der Choreographin so fern wie die Stilisierung als Szenestar. Dafür mimt Jochen Sandig, ihr Produzent und Mitbegründer der von Sasha Waltz geleiteten Gruppe Sasha Waltz & Guests, mit schwarzen Locken und roter Baskenmütze manchmal um so ungenierter den revolutionären Führer des Off-Theaters.

Als Sasha Waltz vor vier Jahren die Tanzszene Berlins enterte, sprachen fast alle ihren Namen englisch aus, dabei ist sie 1963 in Karlsruhe geboren. Doch ihr Ansatz, Tanz in Improvisationen mit Musikern, Performern und bildenden Künstlern auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen, verriet eine Erfahrung, Offenheit und Durchlässigkeit, wie man sie hierzulande nur schwer erwerben kann. Selten wurde das Berliner Künstlerhaus Bethanien seinem Anspruch, Teil eines internationalen Netzwerkes zu sein, so gerecht wie während der Zeit, als Sasha Waltz dort ein Stipendium hatte.

In den „Dialogen“ mit anderen Künstlern spielte sie vielfältige Impulse der Bewegung und Motive des Tanzes durch. Mal stand die assoziative Logik der Bilder im Vordergrund, mal die Verfremdung des Körpers. Mal trieb der akustisch umrissene Ort im Jenseits aller historischen Zeiten, mal war er im Hier und Heute angesiedelt. Mit Kitt Johnson trieb sie die Abweichung vom gewohnten Körperbild bis an physische Grenzen, mit Frans Poelstra kostete sie die Absurdität des Nebeneinander von Tanz und Alltagsgestik aus. Schon da zeigte sich ihr Talent für den Witz und die hohe Geschwindigkeit, die den Bewegungsablauf in die Karikatur und schließlich in die verzweifelte Wiederholung treibt.

Zwischen 1993 und 1995 entstand die Trilogie „Travelogue“, in der Tanz als Beschreibung sozialen Verhaltens funktioniert. Sie erzählt drei Varianten eines flottierenden Beziehungsgeflechts, das durch Bühnenbild und Bewegungsausdruck jedesmal eine andere Qualität erhält. Im ersten Teil bildet eine Küche das Zentrum von Freundschaften, Eifersüchten, Reibungen, Konkurrenzen, Mißverständnissen und Eitelkeiten. Das zweite Stück nutzt Krimimotive und stilisiert die Figuren mehr zwischen schönem Schein und Wirklichkeit. Requisiten und Kulissen werden zu Stellvertretern einer harten Außenwelt, an der die Illusionen zerbrechen. Noch einen Schuß phantastischer geriet der letzte Teil: Die vollgestopfte Bühne schrumpft zur Puppenstube, Tänzer verschwinden in Schubladen und Schränken, Bewegungen wackeln wie in einem Film mit falschen Geschwindigkeiten.

Die Produktionen, erzählt Sasha, entwickeln ihre eigene Logik. Nach dem märchenhaften Schluß von „Travelogue“ verschrieb sie sich eine Packung Realismus, nach dem artistischen Jonglieren zwischen den Möbeln einen weiten Bühnenraum. „Ich wollte sehen, wie die Menschen wirklich leben, ich wollte was für mich bis dahin Fremdes erkunden.“ Außerdem empfand sie Berlin-Mitte, das neue Mekka der Off-Szene, bald als zu eng. „Hier lebe und arbeite ich und sehe nur noch Leute in meinem Viertel, es kommen immer mehr Kneipen, Kinos, Galerien, und irgendwann lebt man in so einer Art Ghetto.“ So brach sie auf nach Berlin-Marzahn, suchte ihren neuen Stoff im Familienleben im Plattenbau. Sie machte Interviews und Videos. „Da, wo für alle die räumlichen Bedingungen gleich sind, interessiert mich, wie sie ihre eigene Lebenswelt entfalten. Diese Welt, in die sie sich zurückziehen und so schön wie möglich machen, hat einen hohen Stellenwert. Überall stand das gleiche Sofa, überall der Couchtisch, die Architektur gibt so viel vor.“

In dem Stück „Allee der Kosmonauten“ aber wird der definierte Lebensraum bald aufgebrochen. Charakterisieren Breakdance, Schlager und Staubsauger noch die stereotypen Rollen in der Familie, so entwickelt diese längs der Dinglichkeit ihrer Welt bald unkonventionelle Verhaltensweisen. Im Spiel mit einem Brett wird Arbeit zum Zirkus, im Drehen auf dem Kopf verändert sich die Perspektive. Die Choreographin, die in diesem Stück erstmals selbst nicht mittanzte und die jungen Tänzer aus einer größeren Distanz beobachtete, verstand sich manchmal fast als Bildhauerin: „Wie kann ein anderes Wesen entstehen, wie können Körperteile ein Eigenleben entfalten?“ Doch auch in den extremen Verformungen ist noch die mutierte Sprache der Alltagsgesten auszumachen. Zwar sind auch Waltz' Stücke nicht frei von Längen, aber ihre Unterhaltsamkeit und Phantasie haben ihr in der freien Szene in Berlin, die oft spröderes Material zu verdauen hat, einen neuen Stellenwert gesichert. Auch für ihr nächstes Projekt ist wieder ein Raum der Ausgangspunkt. Nach Küche, Bar, Bad und Wohnung will sie das Pflaster der Straße abhorchen und den Untergrund erforschen.

Sasha Waltz. Daß ihr Name vom Publikum immer wieder englisch ausgesprochen wird, mag auch an ihrer Vorliebe liegen, Gedichte auf englisch zu schreiben. „I wish they looked at us like three insects. My head can go around, my body is in the air and I am sitting like a virgin on the sad sofa“, steht im Programmheft der „Allee der Kosmonauten“. Broken english, in dem oft fremde Grammatiken aufscheinen, ist die Sprache der Tourneen und der Tanzcompagnien.

Waltz' jetzige Gruppe kommt aus Italien (Nadia Cusimuno, Nicola Mascia), Kanada (Laurie Young, Luc Dunberry), dem Baskenland (Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola) und Japan (Takako Suzuki). Zusammen erzählen sie, wie in Marzahn das Leben gegen die Platte brandet. Sprachgrenzen zu überwinden gehört zur Professionalität der Tänzer, überall. Aber selten nur nehmen sie die Situation des Sicheinfädelns in den fremden Alltag als Erfahrung mit in die Produktion wie hier. Waltz ist neugierig, wie ein fremder Boden unter den Füßen die Befindlichkeit beeinflußt. Deshalb empfindet sie Tourneen auch nicht als Strapaze. Auf Tour will sie die Reaktionen fremder Städte und Kulturen erfahren. Die Rollen auf der Bühne gewinnen dabei an Stabilität: „Die Spieler begreifen immer mehr, wer sie sind, in jedem Moment der Aufführung. Jeder findet stärker seine Linie; die Situationen erhalten Intensität und Lebendigkeit.“ Anfangs war es schwierig, Gastspielmöglichkeiten zu finden, aber inzwischen hat sich „Travelogue“ zu einem Exportschlager entwickelt, der in London, Kopenhagen, Prag, den USA, Brasilien oder Kanada zu sehen war. Gerade schloß sich an ein Gastspiel in Moskau auch ein Workshop mit russischen Tänzern und Schauspielern an. Darauf hatte sich die Choreographin besonders gefreut. Katrin Bettina Müller