■ Ihr Alten regt euch heutzutage doch nur noch über die nervigen Werbepausen im Fernsehen auf. Über das nicht enden wollende Genörgel an der „unpolitischen Jugend“
: Sonntag: Autowaschen mit Rudi D.

Samstag abend, Party der 18jährigen, die Eltern sind auf Mallorca – zuwenig Sonne in Deutschland. Meine Freundin und ich stehen in der Küche. Ab und zu kommt einer von den Bengels vorbei und holt sich was zu essen. Schwarzeneggers Fightgestöhne aus dem Wohnzimmer läßt uns in der Küche bleiben.

Keine Gespräche über Sartre, kein Smalltalk über das schlechte Wetter, kein Interesse für uns Mädels? Zweimal sage ich: „Hallo, ich bin Henrike“, dann lasse ich es bleiben. Was ist bloß los? Haben wir Angst vor Kommunikation? Fürchten wir, uns in einem Gespräch die Blöße zu geben, oder sind wir einfach nicht mehr in der Lage, uns in die Augen zu schauen? Ich bekomme mehr und mehr das Gefühl, daß wir verlernen zu kommunizieren. Vielleicht haben wir es auch nie richtig gelernt?

Nachmittags bringen bunte Musikvideos gute Laune ins Kinderzimmer, und nachts schlafen wir allein vor dem Computer ein. Es wird weniger gesprochen, die Sätze werden kürzer, die Wörter weniger. Phonale Legastheniker – was ist denn das? Unser Hunger auf Informationen wird durch schnell wechselnde Tonfolgen des Radios und flimmernde Fernsehbilder gesättigt. Wir essen, ohne zu sagen, ob es uns geschmeckt hat.

Doch was ist, wenn man zu einem Gespräch gezwungen wird, wenn man provoziert wird? Kann man kontern, oder fehlen einem die Worte? „Hey, was guckst denn du so blöde?“ „Hä, was willst du denn, willste Prügel haben oder was?“ Die Unfähigkeit, sich verbal zu wehren, führt oft dazu, daß man bei Konfrontationen schneller aggressiv wird. Doch was macht man mit der Gewalt, die man nicht los wird. Bringt man sie ins Fitneßstudio, oder pöbelt man anonym im Internet? Man ist mit seiner Aggression allein.

Es gibt keine geschlossene Jugendbewegung mehr, wo man gemeinsam einer Sache hinterherrennt. Jeder rennt für sich allein, man erwartet keine großen Überraschungen mehr vom Leben. Es ist klar, was man tun muß, um durchzukommen, man weiß, daß es nicht leicht ist. Man weiß, daß es schlecht ist, keine Ausbildung zu haben, man weiß, daß es der Umwelt mit uns nicht gefällt, man weiß, daß Kriege Scheiße sind. Irgendwie weiß man doch schon alles, wonach unsere Eltern noch gesucht haben. Unsere Eltern, die als Vorbilder glatt versagen. Die Schule erzählt etwas vom Kampf um soziale Gerechtigkeit, von freier Sexualität, Spaß und Drogen in den 70er Jahren. Doch eure Kritik am System wird von einem neuen Mercedes der S-Klasse überrollt oder wieder einer Woche Urlaub auf Mallorca.

Wie soll ich an euch politisches Interesse und soziales Engagement erkennen, wenn ihr euch nur noch über lästige Werbepausen im Fernsehen aufregt? Bringt euch denn gar nichts mehr aus der Ruhe? Müßt ihr in den traditionellen Trott verfallen und der jungen Generation Schlechtes vorwerfen, weil ihr es selber nicht besser könnt?

Ja, wir sind konsumgeil, wir denken nur noch an uns, und wenn man uns den kleinen Finger reicht, greifen wir gleich nach der ganzen Hand. Wir drücken unsere Individualität durch die Wahl unserer Jeans- und Zigarettenmarken aus. Ja – wir sind konsumsüchtig, und wir wollen es auch sein. Keiner will mehr Omis selbstgestrickten Zopfmusterpullover tragen. Oder die bunte Windjacke, von Mutti gekauft auf Aldis Sonderangebotswühltischen. Klar gab es auch Zeiten, in denen man Papis alte Schlaghosen angezogen hat, aber doch immer nur, wenn es angesagt war.

Schon die ganz kleinen Kids wollen ja unbedingt ihr adidas- T-Shirt haben, das Basecap, die Turnschuhe und das Portemonnaie mit der langen Kette. Coole Klamotten, und schon ist man wer, hat man keine, wird es ziemlich schwer. Ohne ist man der Außenseiter, der Depp, und man hat mehr Probleme, sich durchzusetzen. Die Sachen, die man anhat, drücken das aus, was man ist, und es ist nicht nur das. Es ist wichtig, was man ißt und wo, es ist wichtig, welche Zigarettenmarke man raucht, es ist gut, irgend etwas Spannendes in seinem Leben zu machen.

Es soll möglichst viel passieren. Das Leben soll schnell sein, voller Lust und Abenteuer, es soll alles gleich und sofort geschehen, man möchte eintauchen in einen nimmer endenden Strudel aus Glücksgefühlen und berauschendem Spaß.

Die ältere Generation empfindet unsere Lebensweise oft als schlecht und negativ, was natürlich nichts Neues ist. Immer wieder werden der Jugend Vergnügungssucht und mangelnder Respekt vorgeworfen. Es kann doch nicht sein, daß die Alten die Jungen nie verstehen. Meistens waren sie auch nicht viel anders, und oft ist es auch nicht so lange her, daß sie jung waren. Wird man mit fortschreitendem Alter weiser oder beschränkter? Wie kann es sein, daß in nur zehn Jahren alle Wünsche und Träume der Jugend vom Archivar im Kopf durch den Aktenvernichter gejagt werden oder in irgendeine finstere Ecke geschmissen werden?

Rudi Dutschke ist tot. Aber wir leben.

Vor 18 Jahren wollte die Jugend noch revolutionär sein, wollte die Welt verändern – und jetzt? Schauen wir uns doch mal die Erwachsenen an. Sie halten sich politisch versteckt, schieben Frust, wenn sie in Szenekneipen als Oldies erkannt werden. Sie ziehen sich zurück, träumen vom Eigenheim, verfluchen immer noch ihren Chef, aber nicht mehr so laut, schlafen dann abends beim „Glücksrad“ ein. Sie sind nicht so kritisch mit sich selbst, wie sie mit ihren Eltern waren.

Und wir, wir sind nicht mehr und nicht weniger politisch als unsere Eltern. Wir sind auf jeden Fall skeptischer geworden. Wenn jetzt jemand kommt und sagt „Ich mache die Welt besser!“, wird ihm keiner mehr glauben. Wenn man in Ostdeutschland groß geworden ist, an wen soll man dann noch glauben? Kann man noch jemandem vertrauen, der einen dermaßen enttäuscht hat, der von einem Tag zum anderen sein ganzes Weltbild umschmeißt?

Die Party geht dem Ende zu. Wir haben dann doch nicht Monopoly gespielt. Florian konnte sowieso nicht so lange bleiben. Morgen, am Sonntag, wollte sein Vater mit ihm das Auto waschen, das gute neue. Punkt 11 Uhr. Henrike Schulz