Die neue Armut Rußlands mutet an wie 1917

■ Die heutigen Verhältnisse in Rußland und die Position Jelzins geben zu denken und lassen Assoziationen zu den längst vergangenen Jahren der Revolution zu

Berlin (taz) – Eine alte Frau steht in Moskau und bettelt nach Pfandflaschen, damit sie die gegen etwas Geld eintauschen kann. Seit Monaten hat sie nur teilweise ihre Rente bekommen und versucht sich so durch das Leben zu schlagen. Trotzdem sagt sie, „es gibt Menschen, denen geht es noch schlechter als mir“. Und so sieht man immer mehr Menschen, die auf der Straße liegen und von den Wohlhabenderen wie Hunde behandelt werden. Sie erhalten Knochen, Müll und alles das, was die Reichen nicht mehr brauchen. Die Würde des Menschen ist hier nicht mehr unantastbar. Diese Menschen haben keine Hoffnung; sie nehmen ihr Schicksal hin, ohne sich zu wehren. Wenn man auf dem Roten Platz steht, bemerkt man nichts von dem Elend, doch man braucht nur in eine Seitenstraße zu gehen, und schon befindet man sich in den Slums von Moskau. Die alten russischen Traditionen, die über alle Jahre hindurch die Verarmung der Alten verhindert haben, sind nun verfallen. Für die Alten und Kranken gibt es keine soziale Absicherung mehr, und die russische Regierung schließt vor dem Elend fast aller die Augen und sorgt sich nur um ihre eigenen Pfründen. Die Menschen hausen zu viert in einem Zimmer, teilen sich mit mehreren Familien eine Küche und die Sanitärräume. In Moskau werden Rentner von der Mafia getötet, damit wieder eine Wohnung frei wird, die dann für mehr Geld vermietet werden kann. Die durchschnittliche Monatsrente beträgt zwischen 40 und 60 Rubel, 30 bis 40 Rubel müssen für eine Wohnung bezahlt werden. Aufgrund der Verschlechterung aller Lebensbedingungen seit 1990 wird der Ruf nach einem starken Zarewitsch in Rußland wieder laut. Dieser in ihren Augen „starke Mann“ soll ihnen die Hoffnung auf Besserung des Lebens zurückbringen, wie schon zu Zeiten Peter I. Aber die Zeiten haben sich seit Peters Amtszeiten verändert, und der jetzige Wodka-Zar Boris mit seiner Mannschaft scheint nicht der geeignete Mann zu sein, der Rußland auf den Weg in das dritte Jahrtausend führen kann. Warum wehren sich die Menschen nicht gegen die Zustände à la Russia 1917? Fehlt ihnen der Panzerkreuzer „Aurora“, der ihnen das Signal zum Aufwachen aus ihrer Lethargie sendet, oder haben sie die Lethargie bewußt gewählt. Die „Vogel- Strauß-Politik“ erweist sich nur dann als kurzzeitig wirkungsvoll, wenn die Gefahr von „Kleinsäugern“ ausgeht; sie schlägt absolut fehl, wenn die Gefahr von Wölfen ausgeht, die einzeln oder im Rudel angreifen – und zur Zeit herrscht in Rußland zwölf Monate im Jahr Väterchen Frost, und damit sind für die Wölfe fette Zeiten angebrochen! Anne Winkler