Bei Frust Schulschluß

■ Die Schulabbrecherquote steigt – „Weil die Dunkelziffer sinkt“/ Ein Interview

In Bremen verdoppelte sich seit 1991 die Zahl der Jugendlichen, die die Schule ohne Hauptschulabschluß verlassen haben. Im letzten Jahr waren das 536 SchülerInnen; jedeR Zehnte von ihnen warf das Handtuch, bevor die 10 Pflichtschuljahre um waren. Als erfolgreiches Mittel gegen das Drop-Out-Syndrom wird die Allgemeine Berufsschule im Steffensweg gehandelt. Die taz fragte die Schulleitung Angela Feldhusen und Werner Ratt nach dem Angebot – und nach dem Hintergrund der alarmierenden Zahlen.

taz: Wie kann es zu solch alarmierenden Zahlen kommen?

Ratt: 1991 wurde die Teilzeitberufsschule für ausbildungslose Jugendliche abgeschafft, stattdessen gibt es nur noch Vollzeitangebote – in Berufsschulen oder bei Trägereinrichtungen. Das Angebot ist also erhöht worden, um möglichst alle Jugendlichen regelmäßig einzubinden. Der Anstieg der Zahlen erklärt sich dadurch, daß ab 1991 alle Informationen über diese Jugendlichen gebündelt wurden und die Dunkelziffer dadurch abnahm. Auch sind die Jugendlichen insgesamt älter geworden. Dadurch wächst der Schulverdruß.

Angesichts solcher Zahlen schließt man, daß in den Schulen einiges schief läuft.

Ratt: Das ist eher eine Kritik an die vorhergehenden Sekundarstufen I. Aber die jungen Leute sind heute auch individueller orientiert und tun, was sie selbst für wichtig halten. Wenn sie den Schulbesuch als frustrierend empfinden, gehen sie da nicht hin. Ende. Wir haben mit dem Schulermittlungsdienst herausgefunden, daß es die meisten Schulvermeider an den Hauptschulen gibt. Es beginnt in Einzelfällen in der vierten Klasse. Aber auch in Gymnasien und Realschulen nehmen die Zahlen zu.

Es gibt ja sehr verschiedene Jugendliche in den Schulen...

Feldhusen: Wir haben 26 verschiedene Nationalitäten an der Schule. Für die unterschiedlichen Gruppen gibt es einmal Ausbildungsvorbereitungsklassen, die nach Berufsfächern organisiert werden. Und Flüchtlingsjugendliche gehen in Sprachklassen mit Praxisanteil. Natürlich ist es schwierig, diese Jugendlichen sprachlich und sozial zu stabilisieren. Aber das Schlimmste ist, daß den Jugendlichen keine Ausbildungen angeboten werden.

Ratt: Ich will noch ein anderes Faß aufmachen. Alle denken, erst gibt es Schule und hinterher kommt der Beruf. Wir haben 1991 eine Beratungsstelle für Jugendliche eingerichtet, die irgendwo verloren gegangen sind; die nichts finden und nicht wissen, wie es weitergehen soll. Mittlerweile können wir belegen, daß das 1.000 Jugendliche im Jahr sind. Überall fehlen Informationen. Noch im April stoßen Jugendliche zu uns.

Wie kommt das?

Die Koordination läuft nicht zufriedenstellend. Manchmal kriegen Kollegen das nicht so mit... Oder uns werden Jugendliche nicht gemeldet, die nirgends ankommen.

Ratt: Nicht unwesentlich ist, daß wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Lehrer gucken doch eher nach denen, die was erreichen. Es rennt ja keiner mit seinen Mißerfolgen in die Öffentlichkeit und sagt, Ihr müßt mir helfen. Auch wir brechen Beziehungen ab, wo sie nicht mehr tragfähig sind. Aber wir besorgen eine neue Adresse für den Neubeginn.

Feldhusen:Aber wir nehmen die Jugendlichen, wie sie kommen. Ob das traumatisierte Flüchtlingsjugendliche sind oder deutsche Jugendliche, die emotional verletzt wurden – das gilt für alle gleich. Im Dezember hat ein Junge in einem Interview gesagt, daß das Wichtigste für ihn ist, hier so wie er ist angenommen zu werden.

Ratt: Wir haben auch das Klassenlehrerprinzip, um möglichst viel zusammen zu machen. Ob der Lehrer Deutsch oder Mathematik studiert hat, ist, auf deutsch gesagt, Banane. Wichtig ist die persönliche Beziehung. Kollegen kümmern sich mehr im Team um Jugendliche.

Wie ist die Abbrecherquote hier?

Ratt: Immer wenn man Zahlen darstellt, wirft man sehr viel in einen Topf. Rund 30 Prozent aller Jugendlichen machen das Jahr bei uns nicht fertig, das ist eine hohe Zahl. Da sind diejenigen drin, die wir nicht erreichen können; dazu gehören Asylbewerber, die abgelehnt wurden und sich die Tarnkappe aufsetzen oder straffällige Jugendliche. Manchmal läuft das Bemühen, den Jugendlichen ein Stückchen Regelmäßigkeit zu vermitteln, darauf hinaus, daß man sich gegenseitig auf die Nerven geht. Dann macht man Schluß.

Feldhusen: Einer meiner Schüler mußte zwei Monate auf den Bau, weil hier nichts mehr ging. Jetzt ist er jeden Morgen wieder hier und schafft den Abschluß. Das ist der Freiraum, den Regelschulen nicht haben.

Ratt: Der dort eben nicht gebräuchlich ist.

..aus Phantasielosigkeit?

Ratt: Das hat eher damit zu tun, wie üblich etwas ist. Hier wird offener über vieles geredet. Hier lassen KollegInnen ihren Frust auch mal laut ab und 10 Minuten später ist man das los.

Das klingt so positiv... was haben Sie, was andere nicht haben?

Ratt: Der Druck ist größer. Wir müssen damit anders umgehen. Ein Uralt-Schulsystem mit geschlossenen Räumen und sturen Hierarchien würde hier auseinanderknallen. Wer schräg ist, wird hier akzeptiert. Das ist unser Bildungsauftrag. Unsre Kolleginnen und Kollegen kommen meist über den zweiten Bildungsweg. Niemand wurde hierher zwangsversetzt. Zugleich haben wir zahlreiche ausländische Lehrkräfte, die sprachlich und kulturell vermitteln können. Außerdem haben wir im „Zentrum für Schule und Beruf“viele Vermittlungsangebote. Wir kennen viele viele Organisationen bis hin zum Sportverein, der Angebote für straffällig gewordene Jugendliche anbietet.

Alles super?

Ratt: Nein. Viele Punkte liegen im Argen, wo uns Informationen und Arbeitszeit fehlen. Aber wir sind auf dem Weg und kommen voran. Eva Rhode