Gespenster bei den Miserablen

Im deutschsprachigen Raum bringen Mega-Musicals keineswegs immer mehr Geld ein, als sie kosten. Der Kunde ist wählerisch, und wie auch getrickst wird – zwischen Hamburg und Wien hat der Musical-Ausverkauf schon begonnen  ■ Von Walter Wigand

Beim Finale der allabendlichen „Buddy Holly Story“ im Theaterzelt auf einem ehemaligen Werftgelände des Hamburger Hafens ereignet sich neuerdings Erstaunliches. Inmitten des „historischen“ letzten Auftritts des Rockidols greift der Titelheld Matthias Kostya zur Klampfe und intoniert den Ohrwurm „Pretty Woman“. Die Sache hat einen winzigen Haken: Als Roy Orbison diesen Hitklassiker 1964 ersann, war Charles Hardin Holley alias Buddy Holly bereits fünf Jahre tot.

Derlei Historienpfusch irritiert die Macher des 50er-Jahre-Musicals nicht. In Zeiten sinkender Umsätze und einer Flut neuer Werke ist die „Pretty Woman“- Leihgabe nur Ausdruck konzeptioneller Hilflosigkeit und wirft gleichzeitig ein Schlaglicht auf den Zustand einer zutiefst verunsicherten Milliardenbranche.

Der Vollpreiskunde verflüchtigt sich

Ein Gespenst geht um im Musical- Deutschland, das Gespenst des verschwundenen Zuschauers. Endzeitstimmung macht sich breit unter Spielern und Spekulanten; der Vollpreis zahlende Kunde scheint sich verflüchtigt zu haben, und nicht erst seit der Pleite des Rockmusicals „Tommy“ im vergangenen Mai beginnt es in der Riege der Entertainment-Zocker zu dämmern: Die Musicalwelle bricht, der Boom geht zu Ende.

Vorbei die Zeiten, da ein abgehalfterter Heldentenor wie Peter Hofmann im Hamburger „Phantom der Oper“ mit Gelegenheitsauftritten noch Millionen einsacken konnte, aufgehoben scheint das von Singspielpionier Friedrich Kurz propagierte Branchengesetz, daß „ein Mega-Musical immer mehr Geld einbringt, als es kostet“, vorbei die Ära, als man noch davon träumte, sogar mit radebrechenden Laien und inszenierenden Dilettanten Kasse machen zu können. Der Traum ist aus.

Jüngstes Beispiel: Das Science- fiction-Märchen „Shakespeare & Rock 'n' Roll“ am Berliner Musical- Theater, der ehemaligen Freien Volksbühne. Szenen einer „Betreiberehe“ im Finale einer selbstverschuldeten Pleite: Eintrittskarten werden gepfändet, die Erlöse direkt ans Finanzamt abgeführt; Friedrich Kurz, verantwortlicher Produzent, der vor zehn Jahren im Hamburger Operettenhaus mit Andrew Lloyd Webbers „Cats“ den Boom auslöste, erhält daraufhin von seinem Geschäftspartner Roland Berger Hausverbot.

Der muß mittlerweile selbst ums künstlerische Überleben strampeln; seit Jahresbeginn rauschen die Umsätze der desolaten Lasershow kontinuierlich in den Keller, an manchen Tagen verlieren sich in dem 1.100-Plätze-Theater gerade mal 150 Zuschauer. Logische Konsequenz: Mietschulden, Räumungsklage und das Aus für die Show zum 1.Juni.

Unverdrossen spekuliert die gesamte deutschsprachige Theaterwelt auf „Pennies from Musical Heaven“ und träumt in Zeiten karger öffentlicher Mittel von satten Gewinnen aus Millionen verkaufter Tickets. Eine riskante Rechnung. Allein für die kommende Saison wird an den Subventionsbühnen von Aachen bis Zwickau ein Ausstoß von 147 Musicalpremieren angekündigt; dazu addieren sich noch 17 (!) kommerzielle, täglich spielende Großproduktionen, nicht gerechnet 31 Tourneen sowie diverse „Original Broadway“-Fossile von „Evita“ bis „Fame“, mit denen der Mannheimer Marketender Wolfgang Bocksch die Sommerlöcher in den Staatstheatern stopfen will.

Bei Überangebot gilt in der Marktwirtschaft das eherne Gesetz: Preis runter. Aber davon will die Branche nichts wissen, Auslastung und Buchungszahlen gelten als heilige Kühe aller profitorientierten Musicalunternehmen. Zumindest offiziell. Klammheimlich ist der Ausverkauf bereits im Gange, den Machern bleibt keine Wahl.

Um den lebensnotwendigen Geldfluß der Investoren in Gang zu halten, muß die Gewinnzone stets in Sichtweite bleiben, und dafür ist jedes Mittel recht; es wird getrickst, geschummelt und gemogelt. „100.000 Tickets sind bereits verkauft!“ behauptete Friedrich Kurz trotz des Desasters seiner Berliner „Marlene“-Revue im Mai 1993. Drei Monate später: die Produktion pleite, das Theater versiegelt, die Anleger um fünf Millionen Mark ärmer und „Kon-Kurz“ um einen Spitznamen reicher.

Das Haus muß voll werden – egal wie

Basarmentalität hat auch die Ticket-Counter erreicht. Ganze Kontingente werden an Gruppen, Schulen und Bustouristen zu Schleuderpreisen geradezu verramscht – das Haus muß schließlich voll werden, koste es, was es wolle. „An den zuschauerschwachen Tagen Dienstag bis Donnerstag ist im Parkett kaum noch einer zu finden, der den regulären Preis bezahlt hat“, weiß ein ehemaliger Mitarbeiter des Hamburger Start- Ticket-Service. König Kunde ist wählerisch geworden: Um sein Geld feilscht er, und zwar verbissen.

Aber auch Qualität allein schafft noch keine vollen Ränge. Dem Marktführer Stella Musical AG gelang in Duisburg mit dem Revolutionsepos „Les Miserables“ eine respektable Aufführung. Dennoch blieb der Zuschauerandrang unter den Erwartungen des erfolgsgewohnten Konzerns. „Ein Marketingproblem“, wiegelt eine Stella-Sprecherin ab. Wohl kaum. Den Strategen war schlicht entgangen, daß die angestaubte Barrikadenschnulze in Wirklichkeit eine verkappte Oper ist, deren endloses Gesülze beim mittlerweile showgestählten Musicalfan bestenfalls erhabene Langeweile hervorruft.

„Der Zuschauer läßt sich eben nicht mehr so leicht bluffen“, sagt der Hamburger Impresario Corny Littmann, der auf der Reeperbahn mit dem „Schmidts Tivoli“ ein erfolgreiches Szenetheater betreibt. „Wo ,Welterfolg‘ draufsteht, muß auch ,Welterfolg' drin sein. Wenn das Etikett nicht stimmt, bleibt der Kunde einfach weg.“

Eine Erfahrung, die in Hamburg auch den Machern der „Buddy Holly Story“ nicht erspart blieb. Dort müht man sich neuerdings, die betuliche 37-Millionen- Mark-Show in ein „Erlebnis-Musical“ (Eigenwerbung) umzumodeln. Bei Texteinlagen wie „Buddy Holly trägt Brille – und er hat keinen Pfennig dazubezahlt!“ ein wahrhaft herkulisches Unterfangen, bei dem das Theater denn auch monatelang dienstags „bis auf weiteres“ geschlossen blieb. Offizielle Begründung: „Renovierungsarbeiten“.

In Mönchengladbach träumt man noch

Musical als geschliffene, akzentfrei gesungene Show – eingebettet in eine nachvollziehbare, originelle Story – und das Ganze, bitte schön, in einer attraktiven Umgebung: Allein dafür ist der Kunde noch bereit, bis zu 190 Mark pro Karte zu bezahlen. Verquaste, inhaltsarme Ausstattungsorgien in der provinziellen Einöde sind out und längerfristig nicht zu halten. Die „Tommy“-Pleite in Offenbach machte nur den Anfang, „Gaudi“, eine bemüht-surrealistische Hommage an den spanischen Kultarchitekten Antoni Gaudi, flüchtete von Alsdorf nach Köln, und im tristen Niedernhausen rätselt Chefstratege Kevin Wallace von der Stella-Konkurrenz The Really Useful Group, warum Andrew Lloyd Webbers schwülstiges Melodram „Sunset Boulevard“ auf der grünen Wiese trotz S-Bahn- Anschluß nach Frankfurt einfach nicht so gut laufen will wie einst im Londoner West End, wo am 7.April allerdings ebenfalls der Schlußvorhang fiel.

Nur in Mönchengladbach will man den Trend nicht wahrhaben: Mit einem abstrusen, orchesterlosen „Optical“ namens „Gambler“ – Musik vom Tonband – setzt Produzent Friedrich-Carl Coch im ehemaligen Stadttheater trotz strunzdummer Texte und Dialoge unbeirrt auf das Prinzip Hoffnung.

Zuschauerschwund auch in Wien, doch hier liegen die Dinge vertrackter. Seit Monaten tobt ein bizarrer, drehbuchreifer Musicalkrieg, der erst jetzt ein überraschendes Ende fand. Die Kontrahenten: der Stella-Konzern Hamburg und die Vereinigten Bühnen Wien mit ihrem Chef Rudi Klausnitzer. Objekt der Begierde: das Etablissement Ronacher, ein ehemaliges Varieté, das nach öffentlicher Ausschreibung dem Impresario Peter Schwenkow zugesprochen wurde, der zur Zeit als Chef der Deutschen Entertainment AG am Berliner Schiller Theater Klaus Hoffmanns Musicalrevue „Brel“ vorbereitet. Pikant: 50 Prozent der Deutschen Entertainment AG werden vom Stella-Konzern gehalten.

Schwenkow sei gerade deswegen, so zeterte die Wiener Gegenseite, „in Wirklichkeit nur ein Strohmann für Stella gewesen“, deren offizielle Bewerbung für das Ronacher zuvor abgelehnt worden sei (was stimmt) und die nun – quasi durch die Schwenkowsche Hintertür – den Vereinigten Bühnen (Theater an der Wien/Raimund Theater) mit Long-Running-Musicals Konkurrenz machen wolle. Genau dies sei aber laut Ronacher-Betreibervertrag ausdrücklich verboten.

Der Hamburger Konzern bestritt vehement, und so zog man vor Gericht. Glück für Wien: Stellas Musicaldebüt in der Donaumetropole ging gründlich daneben. „Sie liebt mich“ – ein musikalischer Aufguß des Filmklassikers „Rendezvous nach Ladenschluß“ – entpuppte sich als gefällig-harmlose Vorstadtromanze und vegetiert seit der Premiere im September letzten Jahres trotz gigantischer Werbekampagnen („Anhaltender Erfolg!“) vor halbleerem Haus. Das Ende vom Lied: Stella kapituliert. Am 4. Juli verschwindet ihr Minisingspiel außerplanmäßig wieder in der Versenkung; der Pachtvertrag für das Streitobjekt Ronacher, so wurde jetzt entschieden, fällt ab Januar 1998 zurück an die Vereinigten Bühnen.

Für Triumphgeschrei und Schadenfreude besteht indes kein Anlaß. Trotz perfekter Show wird zum Juni 1997 im Raimund Theater das Disney-Rührstück „Die Schöne und das Biest“ nach nur 20 Monaten Laufzeit vorzeitig wieder abgesetzt. Schuld daran ist nach Klausnitzers Meinung die nur zögerliche Mundpropaganda.

Die Lücke soll ab 2.Oktober Roman Polanskis „Tanz der Vampire“-Spektakel mit der Musik von Filmkomponist Jim Steinman („Footloose“) füllen. An der Schwesternbühne Theater an der Wien läßt man am 4.September die eigentlich schon beerdigte „Elisabeth“ wiederauferstehen – und macht sich damit selber Konkurrenz: Zeitgleich ist die kitschlastige Bombastoschnulze um Österreichs Märchenkaiserin „Sissi“ in Dresden geplant.

Baldiges Aus auch für „Sunset Boulevard“

Hat die Musicalwelle ihren Höhepunkt tatsächlich schon überschritten? Ratlosigkeit macht sich breit. Als nächster Absturzkandidat wird in Szenekreisen bereits „Sunset Boulevard“ gehandelt: Künstlerverträge laufen nur noch bis 31.August, Audition-Termine und Werbeanzeigen über dieses Datum hinaus wurden in Fachmagazinen bereits storniert. Demnächst soll das Aus offiziell bekanntgegeben werden.

Krisenfest scheinen nur die drei Oldies von Musicalfabrikant Andrew Lloyd Webber zu laufen: „Cats“ und das „Phantom der Oper“ in Hamburg sowie die Rollschuhrevue „Starlight Express“ in Bochum. Aber auch hier ist ein Ende des Booms bereits in Sicht. „Wenn die Leute erst mal merken“, ahnt ein Branchenkenner, „daß in London die Tickets nur halb so teuer sind wie hier und der Flug dorthin schon für 222 Mark zu haben ist, dann bricht der deutsche Markt zusammen.“