Politischer Zickzackkurs in Richtung Abgrund

■ Immer weniger verstehen Netanjahu, immer mehr fordern seinen Rücktritt

„Je länger er im Amt ist, desto weniger verstehen wir ihn“, schrieb jüngst die Zeitung Maariv über Benjamin Netanjahu. „Einen Tag ist er ein Moderater und am nächsten ein Extremist. Einen Tag ist er ein bekennender Friedensanhänger, am nächsten frißt er Araber zum Frühstück.“

Ein knappes Jahr nach seiner Wahl zum israelischen Ministerpräsidenten hat Netanjahu eine politische Zickzackspur hinterlassen. Erst weigerte er sich stur, mit Jassir Arafat auch nur ein Wort zu wechseln – dann begann er doch mit dem Chef der palästinensischen Autonomiebehörden zu verhandeln. Als die Unterredungen erfolgversprechend wurden, verprellte er die Palästinenser mit Zugeständnissen an die israelischen Siedler. Erst weigerte sich Netanjahu, überhaupt über eine Veränderung des Status quo in Hebron zu diskutieren, und drohte, die Verträge von Oslo endgültig zur Makulatur zu erklären, dann unterzeichnete er doch noch ein Abkommen über einen Abzug der israelischen Truppen aus Teilen der Stadt im Westjordanland. Und als damit endlich wieder Hoffnung auf Wiederbelebung des Friedensprozesses aufkam, genehmigte er den Bau der Siedlung Har Homa auf dem Ost-Jerusalemer Berg Dschabal Abu Ghnaim. Was Netanjahu sich im Januar an Vertrauen aufgebaut habe, habe er selbst im März wieder zerstört, kommentieren Israelis die Entscheidungen Netanjahus.

Zwar läßt sich eine grobe Taktik der israelischen Regierungspolitik ausmachen: an alle Seiten kleine Häppchen austeilen, um eine breite Zustimmung zu bekommen, und dabei immer darauf achten, daß die Palästinenser am wenigsten bekommen. Jedoch vermögen auch immer weniger Israelis darin eine vertrauenswürdige Strategie erkennen. Die Zustimmung der Israelis zu Netanjahus Politik sank laut Umfragen von 64 Prozent im vergangenen August auf 52 Prozent im März.

Und auch im eigenen rechten Lager schwimmen dem Regierungschef die Felle davon. Netanjahu sei ein „Lügner“, bescheinigt ihm einer seiner früher wichtigsten Unterstützer, der Likud-Politiker Uzi Landau. „Bibi ist für Israel gefährlich. Ich glaube kein Wort aus seinem Mund“, wettert sein eigener Minister für Infrastruktur, Likud-Rechtsaußen Ariel Scharon. Und Jitzhak Schamir, der letzte israelische Ministerpräsident des Likud vor Netanjahu, forderte glatt, der Premier solle zurücktreten.

„Es gibt in meinem Job einige Augenblicke der Isolation“, gab Netanjahu im März einen ungewohnten Einblick in sein Seelenleben. Seither mehren sich die Anzeichen, daß der Regierungschef dieser Situation in eine große Koalition mit der Arbeitspartei entfliehen will. Doch seine Gegner aus den eigenen Reihen könnten vorher zuschlagen. So meinte der iraelische Politikwissenschaftler Jaron Ezrahi kürzlich zum „Fall Netanjahu“: „Wenn in der Politik Leute Schwäche riechen, lädt das geradezu zu Angriffen und weiterer Erosion ein.“ Thomas Dreger