Netanjahu vor dem freien Fall

■ Untersuchungsbericht über die Bar-on-Affäre empfiehlt eine Anklageerhebung gegen den israelischen Ministerpräsidenten. Oppositionsführer Peres fordert Netanjahus Rücktritt, dieser ist hierzu jedoch nicht bereit

Jerusalem (AFP/taz) – Die drohende Anklageerhebung gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat in Israel eine schwere innenpolitische Krise ausgelöst. Der Polizeiminister Avigdor Kahalani hatte am Mittwoch abend der Justiz empfohlen, den Ministerpräsidenten wegen der sogenannten Bar-on-Affäre anzuklagen. Die Polizei wirft Netanjahu „Vertrauensbruch“ und „Betrug“ vor. Oppositionsführer Shimon Peres sprach von einem politischen Erdbeben und einem in der Geschichte des Staates beispiellosen Vorgang. Sollte Netanjahu wirklich wegen politischer Einflußnahme angeklagt werden, wie dies im Untersuchungsbericht gefordert wird, sei sein Rücktritt praktisch unvermeidlich. Rechtlich verpflichtet ist er dazu allerdings nicht. Die Staatsanwältin Edna Arbel will bis Montag abend, dem Beginn des jüdischen Osterfestes, entscheiden, ob erstmals in der Geschichte des Landes ein Ministerpräsident unter Anklage gestellt wird.

Die Affäre war durch die Ernennung des Jerusalemer Rechtsanwalts Bar-on zum Generalstaatsanwalt im Januar ausgelöst worden. Netanjahu steht unter dem Verdacht, sich vom Führer der Schas-Partei, Arie Deri, zur Einstellung Bar-ons erpreßt haben zu lassen. Deri soll gedroht haben, daß seine Schas-Partei sonst dem Abkommen über den israelischen Truppenabzug aus Hebron nicht zustimmen werde. Bar-on sollte im Gegenzug ein seit Jahren laufendes Korruptionsverfahren gegen den Chef der Schas-Partei niederschlagen.

Ein Sprecher Netanjahus wies gestern die Forderungen der Opposition nach einem Rücktritt des Ministerpräsidenten zurück. „Es gibt keinerlei Grund, den Ministerpräsidenten anzuklagen, und er hat nicht die geringste Absicht, zurückzutreten“, sagte sein Sprecher Schai Basak.

Netanjahu, der zunächst keine persönliche Stellungnahme abgab, traf sich gestern mit seinen Beratern und seinem Anwalt Jaakov Weinroth. Die Polizei hatte bereits am Dienstag nach dreimonatiger Untersuchung ihren tausendseitigen Bericht vorgelegt. Am Dienstag war allerdings nur bekannt geworden, daß die Sicherheitsbehörden eine Anklageerhebung gegen Justizminister Zahi Hanegbi, Netanjahus Chefberater Avigdor Liebermann sowie gegen den Schas-Parteichef Arie Deri empfahlen. Laut Bericht stützt sich die Empfehlung zur Anklageerhebung gegen Netanjahu auf einen „zentralen Zeugen“. Bei dem Zeugen handelt es sich um den Anwalt Dan Avi Jitzhak, der sich ebenfalls um den Posten des Generalstaatsanwalts beworben hatte und Bar-on den Vortritt lassen mußte.

In Folge der Krise sind die Gespräche über eine große Koalition zwischen dem Likud-Block und der Arbeitspartei offensichtlich vorerst beendet. Vertreter der Arbeitspartei sagten gestern, solange die Regierung unter Anklagedrohung stehe, kämen Gespräche darüber nicht in Frage.

Die Palästinenser reagierten zurückhaltend auf die Regierungskrise. Präsident Jassir Arafat sagte in Gaza, es handele sich um eine „innere Angelegenheit“. Der palästinensische Minister Nabil Schaath erwartete dagegen auch Auswirkungen der Affäre auf den Nahost-Friedensprozeß.

gb Tagesthema Seite 3