Weder Küsse noch Karriere?

■ Behinderte Frauen sind doppelt diskriminiert und haben es womöglich leichter, sich von allen Rollenklischees zu verabschieden / Heike Ehrig zu ihrer einschlägigen Studie

ehinderte Frauen haben es schwerer als behinderte Männer. Ihre Diskriminierung kann ihnen aber zugleich den Weg in ein widerständiges, unangepaßtes Leben weisen. Das belegt Heike Ehrig in ihrer Studie „Verminderte Heiratschancen oder Perspektivgewinn?“(Kleine Verlag, Wissenschaftliche Reihe, Bd. 80). Ehrig ist Lehrende im Fachbereich Behindertenpädagogik an der Bremer Uni und selbst körperlich behindert.

taz: Was unterscheidet die Lebenssituation behinderter Frauen von der behinderter Männer?

Heike Ehrig: Zunächst einmal werden Behinderte per se– unabhängig vom Geschlecht – diskriminiert, sei es durch Begrenzung ihrer Bewegungsfreiheit, sei es durch Ablehnung oder Abwehr. Und für Frauen verschärft sich die Situation zusätzlich, weil ihr Gestaltungsspielraum ohnehin ein geringerer ist, als der von Männern. So setzt sich Diskriminierung bei behinderten Frauen in doppelter Form fort.

Was heißt das konkret?

Auch behinderte Frauen werden am traditionell weiblichen Rollenbild gemessen. So unterliegen auch sie der Erwartung, attraktiv sein zu müssen, was sie aber – gemessen am klassischen Schönheitsideal – oft nicht sind. Auch für behinderte Frauen gilt die primäre Festlegung auf Haushalt und Reproduktion. Es wird ihnen aber andererseits nicht zugetraut, die Mutterrolle auszufüllen. Das zeigt sich auch daran, daß es für behinderte Frauen kaum ein Problem ist, eine Schwangerschaft abzubrechen.

Und dann kommen noch die verminderten Heiratschancen hinzu.

Es ist ein Fakt, daß behinderte Frauen wesentlich seltener eine dauerhafte Partnerschaft eingehen als behinderte Männer. Das belegen auch Statistiken. Behinderte Männer sind zu 75 Prozent verheiratet, behinderte Frauen zu 38 Prozent. Ich gehen davon aus, daß auch bei den nichtehelichen Partnerschaften behinderte Frauen häufiger leer ausgehen.

Wie sieht es auf dem Arbeitsmarkt für behinderte Frauen aus?

Schlecht. Behinderte Mädchen sind sehr viel seltener in Berufsbildungswerken zu finden als behinderte Jungen, obwohl Mädchen in der Regel bessere Schulabschlüsse haben. Wenn Frauen, die erst im Laufe ihres Lebens behindert werden, in die Berufsförderprogramme der Reha-Einrichtungen kommen, dann landen sie überwiegend in den traditionell weiblichen Sparten wie Hauswirtschaft, Büro oder Textilbereich.

Sie vertreten den Ansatz, daß die Behinderung auch eine Chance sein kann, die traditionellen Muster zu verlassen. Wie ist das möglich vor dem Hintergrund doppelter Diskriminierung?

Die Diskriminierung ist die Rahmenbedingung. Wie die betroffenen Frauen damit umgehen, das ist eine ganz andere Sache. Ich habe Frauen getroffen, die haben gesagt: „Mir ist durch die Behinderung erst bewußt geworden, wie stark das Rollendenken mein Leben beeinflußt hat. Dadurch, daß ich nicht mehr als attraktiv gelte, dadurch, daß mein Freund sich fragen lassen muß, ob er es nötig hat, mit einer wie mir zusammenzusein.“Diese Frauen haben sich dann kritisch mit ihrem eigenen Rollenverständnis auseinandergesetzt. Sie haben sich zum Beispiel gefragt, ob sie tatsächlich einen Mann brauchen, um sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen.

Sie sagen, daß Sie parteilich für behinderte Frauen forschen. Worin unterscheidet sich Ihr Vorgehen von dem der gängigen Wissenschaft?

Das drückt sich zum Beispiel darin aus, daß die sogenannten Betroffenen, die in der gängigen Wissenschaft beforscht werden, für mich Expertinnen ihrer Situation sind. Ich nehme die Frauen und ihre Kompetenz ernst. Darum habe ich für mein methodisches Vorgehen auch kein Raster entwickelt.

Gibt es Forderungen, die Sie aus Ihrer Studie ableiten?

Forderungen, Hoffnungen, Wünsche. Das fängt damit an, daß nach wie vor ein Umdenken erforderlich ist, weil behinderte Menschen immer noch nicht als gleichberechtigt akzeptiert werden. Das geht weiter mit der Verbesserung der Architektur in den Städten. Wichtig ist mir auch die Verbesserung der berufsqualifizierenden Maßnahmen für behinderte Frauen und Mädchen. Gerade in den Reha-Einrichtungen sollten behinderte Frauen verstärkt ermutigt werden, Perspektiven zu entwickeln, die jenseits von weiblichen Rollenklischees liegen.

Interview: Britta Lübbers