Wehende Fahnen für einen Urlauber

■ Der russische Kulturminister Jewgenij Sidorow ist in Sachen „Beutekunst“ratlos / Besuch in Bremen

elbst für UrlauberInnen werden in Bremen manchmal Fahnen gehißt. „Ich bin aus privaten Gründen in Deutschland, trotzdem weht am Rathaus die russische Flagge“, wunderte sich Jewgenij Sidorow, Kulturminister der Russischen Föderation, gestern und legte dafür sein vieldeutiges Lächeln auf. Denn derweil die Herren Jelzin und Kohl, in und bei Bonn ihre Freundschaft pflegen und um die großen Streitfragen „Beutekunst“und Nato-Osterweiterung feilschen, reist Sidorow durch die Lande, ohne daß man ihm rote Teppiche ausrollt. Kultur ist eben überall entweder Chef- oder Nebensache.

Trotzdem liest sich das Programm, das die einladende Forschungsstelle Osteuropa an der Uni für Sidorows Bremen-Besuch zusammengestellt hat, ministrabel: Frühstück mit dem Bürgermeister, 9 Uhr; Pressegespräche, 11 Uhr; Treffen mit Vertretern des Kunstvereins, 13 Uhr; Vortrag über Kulturpolitik, 16.30 Uhr – und so weiter. Kein Wunder, daß der Urlauber aus der Reihe tanzt, das Gespräch mit Henning Scherf (SPD) verkürzt und statt dessen die Paula-Becker-Modersohn-Ausstellung ansteuert. Dies eine Gelegenheit für Wolfgang Eichwede, Leiter der Forschungsstelle, uns für das anschließende Gespräch einen Tip zu geben: „Machen Sie die Beutekunst lieber nicht zum Schwerpunkt.“

Schon folgt Sidorows erste Überraschung: „Fragen Sie, was sie wollen!“Und dann antwortet der seit 1992 amtierende Kulturminister wie einer, der seine Meinung hat, aber eine andere vertreten muß. Vier Fünftel der russischen Bevölkerung seien nach Meinungsumfragen gegen eine Rückführung der nach dem Zweiten Weltkrieg in die damalige Sowjetunion verbrachten Kulturgüter. „,Wer baut die im Krieg zerstörten Kirchen wieder auf?' ist eines der Hauptargumente“, sagt Sidorow und stellt nüchtern fest: „Die Deutschen haben nichts, was sie eintauschen könnten.“Ratlos wirkt er, wenn er darüber nachdenkt, wie sich die Emotionen wieder abkühlen lassen.

Rund 200.000 Kunstgegenstände und etwa zwei Millionen Bücher lagern in russischen Museen oder in Privatwohnungen. Allein die Bremer Kunsthalle vermißt aus ihren Beständen mehrere hundert Zeichnungen, Graphiken oder Gemälde, die zum Teil offiziell beschlagnahmt, zum anderen Teil aber – wie die sogenannte Sammlung des Soldaten Viktor Baldin – inoffiziell nach Rußland gelangten. Für alle Kulturgüter gilt ein vom russischen Parlament verhängtes Ausfuhrverbot. Dieses Moratorium muß solange befolgt werden, bis das Verfahren über das Kulturgütergesetz, das die beschlagnahmten Kulturgüter zu russischem Eigentum erklärt, abgeschlossen ist.

Das hängt zur Zeit in der Luft. „Präsident Jelzin hat angekündigt, das Gesetz dem Verfassungsgericht vorzulegen“, bestätigt Sidorow gleichlautende Meldungen. Dennoch: „Die Baldin-Sammlung (mit Werken von Dürer, Goya oder Rembrandt; Anm. d. Red.) muß auf jeden Fall zurückgegeben werden“, sagt Sidorow.

Und doch hinterläßt er nach dem jahrelangen Hickhack Zweifel. Bleiben die Verdienste. An denen der studierte Jurist, Jahrgang 1938, seinen Anteil hat. Er habe die Kulturgüter öffentlich zugänglich gemacht: „Die gefangene Kunst befreien“, nennt er diesen kulturpolitischen Schritt und hat damit schon den doppelten Spagat getroffen, mit dem ein Kulturpolitiker in Rußland zu tun hat. Wenn Sidorow bemängelt, daß seine Ministerkollegen nicht viel für Kultur übrig haben und damit Geld genauso wie Interesse meint, klingt das vertraut. Ebenfalls nicht unbekannt sind die inhaltlichen Maßstäbe, denen sich Kulturpolitik in Rußland heute unterwirft. Immerhin: Noch vor einem Jahrfünft hätte jede Auslandsreise vom Ministerium in Moskau genehmigt werden müssen. Jetzt klingt das so: „Die Hauptqualifikation eines russischen Kulturministers besteht darin, sich nicht einzumischen – wie ein Arzt“.

Sidorow sieht in dieser Freiheit die Chance, die Kultur in den fast 90 Regionen der Föderation zu fördern. „Die wichtigsten Entscheidungen müssen in den Provinzen fallen.“Inmerhin werden dort selbst für UrlauberInnen Fahnen gehißt. Christoph Köster