Entlausen, waschen und zum Doktor

Das Haus VI in der Männerhaftanstalt Plötzensee ist kein gewöhnlicher Knast. Hier verbüßen Obdachlose und Treber Ersatzfreiheitsstrafen, weil sie Geldstrafen nicht bezahlt haben. Manche kommen immer wieder  ■ Von Plutonia Plarre

Langsam scheppert der Karren mit den Essenskübeln durch die Gänge. Vor jeder Zelle halten die Küchenarbeiter und schöpfen Kartoffeln, Fleisch und Soße in die Schüsseln der Gefangenen. Es gibt Szegediner Gulasch. Ein alter Mann mit schlohweißem Stoppelhaar und aufgedunsenem Gesicht stellt sich schon zum zweitenmal für einen Nachschlag an – von der Portion würden zwei Bauarbeiter satt werden.

Das Haus VI in der Männerjustizvollzugsanstalt Plötzensee ist kein gewöhlicher Knast. In dem aus dem vergangenen Jahrhundert stammenden roten Backsteingebäude sitzen nur Gefangene ein, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Viele sind Obdachlose oder Trebegänger, dazu alkoholkrank oder drogenabhängig, haben weder Familie noch Freunde. Die meisten können kaum das Wort „Bäcker“ auf dem Ladenschild lesen, geschweige denn ein kompliziertes Schriftstück in Bürokratendeutsch. In den Knast gekommen sind sie, weil sie in letzten zwei Jahren zu einer Geldstrafe verurteilt wurden, diese aber nicht bezahlt haben. Bei einer zufälligen Polizeikontrolle erfuhren sie, daß die Staatsanwaltschaft gegen sie einen Vollstreckungshaftbefehl zur Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe erlassen hatte.

In Berlin werden pro Jahr etwa 40.000 Geldstrafen verhängt. Die meisten Verurteilten bezahlen spätestens dann, wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht und die Pfändung des Gehaltes androht. Rund fünf Prozent landen im Knast, weil bei ihnen nichts zu holen ist und weil sie auch nicht bereit sind, die Strafe durch gemeinnützige Arbeit abzuleisten.

Die rund 3.000 Männer, die im Haus VI pro Jahr einsitzen, wurden wegen ganz normaler Delikte verurteilt: Leistungserschleichen (Schwarzfahren oder Steuerhinterziehung), Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Hehlerei, Betrug, Körperverletzung, Nötigung, Beleidigung, Verkehrsdelikte und ähnliches. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei der Verbüßung der Ersatzfreiheitsstrafe beträgt 20 Tage. Aber viele Gefangene sitzen auch 50 Tage und mehr für ein Paar geklaute Schuhe oder für Fahren ohne Führerschein ein. Ein Tagessatz Geldstrafe entspricht einem Tag Freiheitsstrafe. Bei der Bemessung der Höhe des Tagessatzes geht das Gericht vom durchschnittlichen Nettoeinkommen des Angeklagten aus. Der niedrigste Tagessatz ist auf zwei Mark festgesetzt, der höchste auf 10.000 Mark. Die Anzahl der Tagessätze darf nicht weniger als fünf und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens 360 Tage betragen.

Im Haus VI sammeln sich die Randgruppen der Gesellschaft. „Von hundert Menschen, die hierherkommen, haben zweieinhalb ein Arbeitsverhältnis“, weiß Sozialarbeiterin Regina Knöfler, die in ihrem vergitterten Büro Sozialarbeit pur betreibt. Es sei ein hartes Geschäft, das Schicksal der Probanden gehe an die Nieren. Sie berichtet von Menschen, die zunächst ganz brav ihre Geldstrafe in Raten abgestottert, dann aber durch den Verlust der Arbeit erdrutschartig den Boden unter den Füßen verloren haben. Job weg, Familie weg, obdachlos geworden. „In dem Streß vergessen die meisten, bei der Staatsanwaltschaft um Stundung zu bitten. Das bedeutet: Wenn eine Rate ausbleibt, wird der gesamte Restbetrag fällig.“

Meist handelt es sich um Leute, die sowieso jeden Brief in den Mülleimer werfen und die durch niedergelegte Schriftstücke bei der Post nicht erreichbar sind, weil sie keinen festen Wohnsitz haben, sagt Anstaltsleiter Udo Plessow. „Aber selbst wenn sie den Brief bekommen, begreifen sie meist den Inhalt gar nicht.“

Schon jetzt ist das Haus VI in der Männervollzugsanstalt Plötzensee überbelegt. Plessow und Knöfler befürchten, daß die Gefangenenzahlen aufgrund der zunehmenden Arbeitslosigkeit weiter in die Höhe schnellen werden. „Die Zahlungssäumigen werden mehr werden.“

Nach der Einlieferung in den Knast stehen als erstes ein Arztbesuch und Hygiene auf dem Programm. Waschen, Entlausen, Krätze und andere Hauterkrankungen behandeln zu lassen, seien kein Muß, betont Sozialarbeiterin Knöfler. Aber wer die Behandlung verweigert, darf während der gesamten Haftzeit nicht die Zugangsstation verlassen. Knöfler erinnert sich an einen Obdachlosen, der seine gesamten zehn Tage im Knast unter Verschluß blieb. „Seine Mütze, die lebte vor Läusen.“ Das sei aber ein Einzelfall. „Die meisten sind für jede Behandlung dankbar.“

Im Laufe ihrer knapp dreijährigen Tätigkeit sieht die Sozialarbeiterin einige Gesichter immer wieder. „Manche kommen mir vor wie Zugvögel. Im Frühjahr fliegen sie aus, und im Herbst kommen sie zurück.“ Daß diese es mit einer neuerlichen Straftat ganz gezielt darauf anlegen, den Winter im warmen Knast statt auf der Parkbank zu verbringen, hält Knöfler für ausgeschlossen. So eine Rechnung würde schon deshalb nicht aufgehen, weil die Staatsanwaltschaft entscheidet, wann der Haftbefehl zur Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe erlassen wird.

Sozialarbeiterin Knöfler ist davon überzeugt, daß kein Mensch eine Haft als angenehm empfindet. Aber für manch einen habe sich der Aufenthalt im Haus VI als „lebensverlängernd“ erwiesen. Einer, der vor seinem ersten Knastbesuch nur Alkohol getrunken habe, sei beim zweiten Mal bereits bei Brennspiritus angekommen.

Die hohe Fluktuation unter den Gefangenen ist dem Haus VI anzusehen. Kein Bild ziert die Zellen, Doppelstockbetten, Tisch und Stuhl sind das einzige Interieur. Allenfalls sind Sprüche auf den Wänden zu lesen: „Mit jedem Tag meines Lebens erhöht sich die Zahl derer, die mich am Arsch lecken können. Ab heute gehört auch ihr dazu.“

Die Zellen stehen den ganzen Tag offen. Ab 23 Uhr ist Nachtruhe angesagt. Rumsitzen, Rauchen, Kaffee trinken, Karten und Tischtennis spielen, mehr passiert nicht. Fernsehen ist erst ab 15 Uhr erlaubt, um die Arbeitsmoral nicht zu untergraben, wie es im Anstaltsdeutsch heißt. Aber: Arbeiten in den Knastwerkstätten geht aus Haus VI sowieso kaum einer, weil es sich nicht lohnt, die Ersatzfreiheitsstrafler für die kurze Zeit anzulernen.

Ein Haftplatz kostet am Tag 230 Mark. Die Summe, die bei 50 Tagen Freiheitsentzug zusammenkommt – als Sanktion für ein geklautes Putenschnitzel zum Beispiel –, steht in keinem Verhältnis zu dem entstandenen Schaden. „Justiz rechnet sich fast nie“, versucht Anstaltsleiter Udo Plessow das System zu verteidigen, räumt dann aber ein, daß auch ihn bisweilen Zweifel beschleichen. „In manchen Fällen fragt man sich schon, was das soll.“ In Haus VI habe zum Beispiel einmal ein Obdachloser gesessen, der bei 20 Grad minus in einen Zug nach München gestiegen war, um nicht zu erfrieren. Der Mann wurde vom Schaffner wegen Schwarzfahrens angezeigt und von einem Gericht verurteilt.

Sozialarbeiterin Knöfler ist es abzunehmen, wenn sie sagt, sie versuche, ihr Bestes zu tun, damit die Männer nach der Entlassung nicht wieder auf der Straße landeten. „Wenn sie wirklich wollen, findet man einen Platz in einem betreuten Projekt. Die Frage sei nur, wie lange sie da blieben. „Manche sagen von vornherein, meine Pension oder Parkbank reicht mir, weil ich da weiter trinken kann.“ Einige, die im Haus VI saßen, hätten es jedoch geschafft, wieder auf die Füße zu kommen, freut sich Regina Knöfler.

Selten zwar, aber hin und wieder ist es auch schon vorgekommen, daß gutsituierte Leute mit festem Lohn und Brot im Haus VI ihre Ersatzfreiheitsstrafe absaßen, weil sie ihre Geldstrafe partout nicht zahlen wollten. Das ist insofern verwunderlich, weil es kein Wahlrecht „Geld oder Knast“ gibt. „Eigentlich hätte das Gehaltskonto dieser Leute gepfändet werden müssen“, wundert sich Plessow. Eine Erklärung, warum die Staatsanwaltschaft dies unterlasse, hat er nicht parat. Vielleicht werde er ja eines Tages den Vorsitzenden der PDS-Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, als Gefangenen in seiner Anstalt begrüßen können. Gysi hatte aus Protest gegen die Steuerforderung von 64 Millionen Mark gegen seine Partei zusammen mit anderen PDS-Parteigrößen die Unabhängige Kommission besetzt und war deshalb vom Amtsgericht im Herbst vergangenen Jahres zu 50 Tagessätzen à 300 Mark verurteilt worden. Weil er die Strafe nicht einsah, hatte er nach dem Urteil erklärt, er werde eher in den Knast gehen, als zu bezahlen. „Das wird ihm wohl nicht gelingen“, ist sich Udo Plessow sicher. Die Staatsanwaltschaft werde bestimmt auf Pfändung der 15.000 Mark bestehen. „Alles andere wäre ein Politikum.“ Aber bevor es dazu kommt, gibt es ohnehin noch eine Berufungsverhandlung.

Der Mann mit dem schlohweißen Haar ist mit seiner Essensschüssel in seine Zelle geschlurft. Dort sitzt er nun am Tisch und schaufelt die Kartoffeln und das Gulasch in sich hinein. Er sei zu 55 Tagessätzen à zehn Mark Geldstrafe verurteilt worden, weil er 4.000 Mark zuviel von seinem Postscheckkonto abgehoben habe. Nein, Arbeit habe er keine. Früher sei er Kellner gewesen, „aber in meinem Alter nimmt mich doch keiner mehr“. Der Alte ist guter Hoffung, daß er nicht die gesamte Strafe absitzen muß. „Bald habe ich 400 Blutzucker, dann gibt's bestimmt Gnade.“

Mit dem Alten am Tisch sitzt ein 28jähriger Elektriker. Er befindet sich wegen illegaler Abfallbeseitung im Knast, weil er sein Auto, statt zum Schrott zu fahren, am Straßenrand stehen ließ, so daß die BSR tätig werden mußte. 17 Tagessätze à 100 Mark lautete das Urteil. Daß er seinen Job durch die Inhaftierung verlor, kümmert ihn nicht. „Als Fachkraft findet man immer was Neues.“ Auch sonst hat er keine Probleme mit dem Knast. Er sei schon zum drittenmal hier im Haus VI, sagt er und grinst. „Die 17 Tage gehen schnell rum. Ist doch allemal billiger, als 1.700 Mark zu bezahlen.“