Diachrone Schizophrenie

Vom „germanischen Wissenschaftseinsatz“ zur linksliberalen Hochschulpolitik – das doppelte Leben des Germanisten Hans Schwerte, der früher einmal Hans Ernst Schneider hieß  ■ Von Ulrich Wyss

Der Germanist Hans Schwerte war seit 17 Jahren emeritiert, ein hochgeachteter ehemaliger Rektor der TH in Aachen, Träger des Bundesverdienstkreuzes, als es 1995 herauskam: Er hieß in Wirklichkeit Hans Ernst Schneider und war bis 1945 SS-Obersturmführer gewesen, zuletzt im „persönlichen Stab“ Heinrich Himmlers.

Das Erschrecken war groß. Schwerte, den man als linksliberalen Hochschulpolitiker schätzte und als recht progressiven Literaturwissenschaftler zu kennen glaubte, hatte alle betrogen, auch die Minister aus dem Kabinett Johannes Raus, mit denen er sich gut verstand. In Schneiders/Schwertes doppeltem Leben stellte sich wieder einmal ganz unerwartet die Frage, was der Nationalsozialismus für die Kontinuität der deutschen Geschichte bedeutet: ein Ausnahmezustand, aus dem in die Normalität zurückzukehren wäre, oder ein schreckliches Stück dieser Normalität selber? Moralisieren ist einfach, hilft aber nicht weiter. Und die Universität Erlangen, an welcher Schwerte im Jahre 1947 promoviert hatte, widerstand der Versuchung, ihm den Doktortitel abzuerkennen. Es wäre eine bürokratische Ersatzhandlung gewesen.

Schwerte war kein kleines Licht

In Aachen, wo Schwerte vor einem Vierteljahrhundert als reformfreudiger Rektor amtiert hatte, rückte man dem Problem mit einer Ringvorlesung zu Leibe, die jetzt als Buch vorliegt. Schneider war kein kleines Licht, das nur so mitgelaufen wäre; bis zuletzt agierte er als Organisator und Propagandist, zunächst in den besetzten Niederlanden, dann im Zentrum des Herrschaftsapparates, wo er den „germanischen Wissenschaftseinsatz“ im Auftrag der SS koordinierte. Das war wohl keine „germanische Spielwiese“, wie Schwerte nachträglich wahrhaben wollte. Aber was sagt es über sein Arbeiten nach 1945? Hat er seine Projekte im zweiten Leben einfach weiterverfolgt?

Es gibt thematische Überschneidungen, etwa das Interesse an der Theaterwissenschaft; in den Arbeiten um 1950 hat er noch lange keine Sprache für eine neue Art der Wissenschaft gefunden. Aber das verhält sich bei den meisten seiner Fachgenossen, die auch mitgetan hatten, nicht anders. Daß der fast 40jährige Doktorand dann eine Assistentenstelle bekam und der Mittfünfziger ein Ordinariat, verwundert schon eher. Haben ihm alte Kameraden geholfen? Er muß sich als Funktionär des „Ahnenerbes“ in der Germanistenszene ausgekannt haben. Beweise für ein Netzwerk gibt es indes nicht. Klaus Weimar hat wohl recht, wenn er meint, Schwertes Karriere sei „selbsttragend“ gewesen. Er betrieb als Germanist auch nicht die Restauration faschistischer Paradigmen, sondern wollte es tatsächlich anders machen. Sein Leben ist definiert, schreibt Weimar, durch eine Art „diachrone Schizophrenie“.

Wie viele junge Wissenschaftler seiner Generation nahm Hans Ernst Schneider die Chance wahr, die ihm mit der Politik der Nazis geboten wurde. Deren Wissenschafts- und Kulturpolitik war „improvisiert und sprunghaft“ (Hellmut Seler), auch in den besetzten Ländern.

Phantasma der Volksgemeinschaft lebt

Aber es fanden sich die Mediziner und Humangenetiker, die Historiker und die Sozialwissenschaftler, die als „Vordenker der Vernichtung“ (Susanne Heim) ungeahnte Arbeitsperspektiven bekamen. Einige von ihnen blieben weiter tätig wie jener Helmut Meinhold, der bis 1986 Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung war. Das Phantasma einer „Volksgemeinschaft“, die „ethnisch homogen“ und sauber wäre, ist ja, wie wir jeden Tag erfahren, nicht mit dem NS-Staat untergegangen. In solchen Gemeinschaften wird geradezu eine „Angst vor der Politik“ mit ihren Konflikten und Kompromissen virulent, auch heute noch.

„Es gibt einen parteiübergreifenden Konsens“, stellt Jan Philipp Reemtsma fest, „daß man sich in den wirklich wichtigen Fragen einig sein sollte. Das ist alles andere als evident.“ Derlei Kontinuitäten sind uns unheimlich. Das hat gerade der Fall Schneider/Schwerte an den Tag gebracht; er macht das Pathologische an der postfaschistischen Normalität sichtbar.

Sollte man über Schwerte besser schweigen? So haben die Aachener Studenten den Philosophen Hermann Lübbe verstehen wollen; sie verhinderten seinen Auftritt in der Ringvorlesung. Lübbe hatte 1983 die These aufgestellt, nach 1945 hätten sich die Deutschen im „kommunikativen Beschweigen“ geübt; eine „asymmetrische Diskretion“ habe Täter, Opfer und Mitläufer verbunden. Das war notwendig, schreibt Lübbe jetzt wieder, denn nur so habe sich der Alltag, in dem man nun einmal miteinander umgehen mußte, bestehen lassen. Nur: Es haben sich dadurch auch die Pathologien im Alltag fortgezeugt. Gewiß, es war notwendig, die funktionalen Eliten (also Ärzte, Juristen, Lehrer, Ingenieure) aus dem Nazireich zu übernehmen und ihnen die Gelegenheit zur Integration zu geben.

Wie großzügig man mit Amnestien verfuhr, zeigt Norbert Frei; er dokumentiert, daß von den vielleicht 80.000 „Braun-Schweigern“, die unter falschem Namen lebten, etwa 1.300 die Gelegenheit zur Rückkehr in die Legalität ergriffen, die ihnen 1949 und dann noch einmal 1954 geboten wurde. Auf die Dauer jedoch wird das Beschweigen, wie kommunikativ auch immer man es sich vorstellt, nur Schaden anrichten. Es schafft eben jenes Klima von Verdächtigungen, Erpressungsversuchen und Denunziation, das es verhindern soll. Und vor allem: Es zwingt die Opfer, sich zu Komplizen der Täter zu machen (Winfried Schulze).

Lübbe verteidigt seine Generation. Im Gegensatz zu den „Achtundsechzigern“ sei sie in ihrem Antitotalitarismus unbeirrbar gewesen. Für Jürgen Habermas und dessen Erschrecken angesichts des „DM-Nationalismus“ hat er nur Hohn übrig. Die Nachkriegsgeneration analysiert Heinz Bude. Ihr verweigerten die Eltern die Deutung der eigenen Geschichte. So kamen sie „nicht los von dem ihnen so früh eingepflanzten Lebensgefühl, Träger von etwas Unausgesprochenem und Unaussprechlichem zu sein“. Die internationalen Revolten um 1968 boten dann die Chance, einen Bruch zu inszenieren und Wörter für das Unaussprechliche zu finden: Die „Schamkultur“ wurde in eine „Schuldkultur“ transformiert.

Endlich sind die Archive offen

Und heute? Wer der Schuld nicht ausweicht, gewinnt moralische Souveränität (Helmut König). Er kann Gerüchten und Lügen entgegentreten. Das ist den Universitäten in Deutschland durchaus nicht selbstverständlich; nur in Hamburg hat man die eigene NS-Vergangenheit systematisch und detailliert aufgearbeitet. Aber die Bedingungen dafür sind günstig wie noch nie, die Archive öffnen sich, und viele Widerstände lassen nach.

Das ist die eine Seite. Es gilt aber auch die Tatsache, daß die Politik der Deutschen sich immer weniger am Blick auf die NS-Vergangenheit orientieren kann. Der Politologe König gibt dafür ein Beispiel, dessen Prägnanz nichts zu wünschen übrigläßt. Aus den Greueln der Naziherrschaft ergeben sich Gründe gegen eine Intervention deutscher Soldaten im jugoslawischen Krieg – aber ebenso gute Gründe dafür. Die Fraktion der Bündnisgrünen hat dieses Dilemma beinahe zerrissen. „Wir wissen immer mehr über den Nationalsozialismus und über den Holocaust, aber dieses Wissen bedeutet immer weniger.“ Daß es trotzdem immer noch gebraucht wird, beweist der Fall des SS-Mannes Schneider, der sich dann Schwerte nannte.

„Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen“. Herausgegeben von Helmut König, Wolfgang Kuhlmann, Klaus Schwalbe. Verlag C.H. Beck, München 1997, 360 Seiten, 24DM