■ Der westliche Universalismus darf keine Menschenrechts- verletzungen tolerieren. Er ist deshalb imperial angelegt
: Kant ist klüger als naive Pazifisten

Zum ewigen Frieden – so hieß ein Wirtshaus im Holländischen, das Schild vor der Tür zeigte einen Friedhof. Im Jahre 1795 nahm sich Immanuel Kant des Namens an, übertrug ihn vom Reich der Toten auf das der Zukunftspolitik und verwandte ihn als Titel einer Abhandlung.

Zum ewigen Frieden – die kleine Schrift erregte großes Aufsehen, denn Kant versuchte etwas bis dahin Undenkbares zu denken: Ist es möglich, dem Krieg auf der ganzen Welt dauerhaft den Garaus zu machen? Das klingt idealistisch, doch bleibt Kant weit davon entfernt, blumige Visionen von Harmonie und Völkerverständigung zu entwerfen. Ausdrücklich spricht er von der „Bösartigkeit der menschlichen Natur“, die es deswegen durch Recht, Verpflichtung und Zwang zu zähmen gelte: Der Friede „muß gestiftet werden“.

Schnurstracks steuert Kant auf das zentrale Problem zu: das der staatlichen Souveränität. Souveräne Staaten – so republikanisch sie nach innen auch verfaßt sein mögen – stehen untereinander in einem unerklärten Feindschaftsverhältnis, der Krieg ist in ihrem Umgang „Natur“. Zu zähmen ist dieser stets drohende Kriegszustand nur durch Verpflichtungen, die über Staatsgrenzen hinausreichen und zumindest Teile der Souveränität kassieren: durch einen „Völkerbund“ (Kant), durch einen „Friedensbund“, der sich vom Friedensvertrag dadurch unterscheidet, „daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte“.

Eine zentrale Stelle lautet: „Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Kriege enthält, herauszukommen, als daß sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden feindseligen Neigung aufhalten.“

Kant schrieb diese Zeilen am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung, doch sie klingen realistischer als das meiste, was der Pazifismus heute zu bieten hat. Während sich der Kantsche Friedensgedanke mit der Omnipräsenz des Bösen herumschlug, wurde der pazifistische Friedensgedanke nach 1918 auch zu einer Geste der Flucht in eine imaginäre bessere Welt mit Blümchentapete. Kant war kühn, der moderne Pazifismus neigt dagegen zur Defensive, zur heilen Welt der Menschen, die meinen, schon das Nein zum Krieg sei eine friedensstiftende Tat. So mächtig die Friedensbewegung der 80er Jahre auch war, vom Kantschen Idealismus war sie um Welten entfernt. Frieden, aber subito: Da war die Bewegung von Hybris so wenig frei wie von Komik. Die Friedensbewegung war auch eine Bewegung träger Herzen.

Sibylle Tönnies schlägt in ihrem Beitrag „Die Zukunft des Pazifismus“ (taz, 12. 4. 1997) demselben gewissermaßen eine imperiale Wende vor. Er müsse aus der Defensive heraus und zum unermüdlichen Protagonisten des Menschenrechts-Universalismus werden. Zielpunkte: Weltinnenpolitik, Weltföderation, Weltregierung, kurz: Rückkehr zum Kantschen Horizont. Dabei mischt die Autorin auf aparte, aber wenig überzeugende Weise zwei Traditionen: die des O-Mensch-Pazifismus und die des westlichen Universalismus, die der Selbstgenügsamkeit und die des Expansionismus.

Damit umschifft sie ein Problem, das von zentraler Bedeutung für alle sein muß, denen an der weltweiten Gültigkeit der Menschenrechte gelegen ist. Sie hat nicht unrecht, wenn sie sagt: „Das menschenrechtsorientierte Wertesystem ist seinem Charakter nach pazifistisch.“ Pazifistisch ist es insofern, als es – nach langen Kämpfen – den einzelnen Menschen und seine Integrität als etwas Unübersteigbares erkannt und anerkannt hat. Es gibt keine Räson, die es rechtfertigen könnte, Menschen zu töten und ihrer Menschenrechte zu berauben: Diese Übereinkunft ist die Quintessenz der langen abendländischen, also jüdisch-christlichen Geschichte der Rechts- und Freiheitsfindung. Nichts Heiligeres als das Individuum. Doch leider: Weil es in dieser Frage keine Halbheiten geben kann, kann das „menschenrechtsorientierte Wertesystem“ nicht bescheiden, friedlich lokal und in der Nische bleiben. Es hat einen mit Unbedingtheit gültigen Wertmaßstab in die Welt gesetzt, das Wegsehen und das Messen mit anderem Maß (etwa: andere Menschen, andere Sitten) ist nun nicht mehr zulässig.

Deswegen muß der westliche Universalismus (das einzige „Wertesystem“, das dem Individuum Unantastbarkeit zuschreibt und Zweifel wie Selbstzweifel zum eigenen Bewegungsgesetz gemacht hat) einen offensiven Charakter haben. Er ist imperial angelegt, er muß den Blick nach außen schweifen lassen, muß vielleicht sogar imperialistisch sein. Er kann es sich im Prinzip nicht leisten, auch nur eine Verletzung der Menschenrechte zu dulden. Er kann nicht tolerant gegenüber der Intoleranz sein, er darf sich nicht selbst in den Rücken fallen. Obgleich er von einem unbedingten Willen zum freiwilligen Frieden getragen ist, kann er dem Dilemma seiner Radikalität nicht entgehen. In der Auseinandersetzung mit den vielen Fundamentalismen kann er nicht garantieren, daß er stets und um alles beim Lob der Koexistenz bleiben wird.

Mit Waffen ist kein Frieden zu schaffen, manchmal ist mit ihnen aber das Schlimmste zu verhindern. Dieser Einsicht sollte sich der Pazifismus nicht verschließen. Sanft klingt die Rede von der Weltinnenpolitik, doch dem steht einiges, was uns Menschen Natur ist, entgegen. Etwa die Tatsache, daß wir unterscheidende, Unterschiede machende Wesen sind, daß wir uns nicht nur zusammentun, sondern immer auch abgrenzen. Daß unsere Gemeinwesen, unsere Staaten nicht möglich wären, wenn nicht definiert wäre, wer dazu- und wer nicht dazugehört. Daß also, aufs erste mindestens, die Idee der Weltinnenpolitik daran krankt, daß sie beschämend schemenhaft bleiben muß, da es kein anderes Gemeinwesen (es sei denn ein außerirdisches) mehr gäbe, von dem der Staat der Weltbürger sich unterscheiden und abgrenzen könnte. Die Horst-Eberhard-Richter-Ideen bringen uns nicht voran. Kehren wir zurück zu Immanuel Kant! Thomas Schmid