Die Seele einer Nation in Notwehr

Brecht gilt in Moskau als Dogmatiker – in der von Maschkow spektakulär inszenierten „Dreigroschenoper“ aber erkennt sich die neurussische Gesellschaft wieder  ■ Von Barbara Kerneck

Trach, trach, trach!!! Maschinengewehrsalven kreuzen sich gefährlich nahe an der Rampe. Blaue Dunstschwaden kriechen über die Bühne, und bleiern flattern rätselhafte Vögel, fette, schmutzige Tauben, durch den Saal, damit nach den Zuschauern in den ersten Reihen auch noch die in der 25. ihre Köpfe einziehen. Die Inszenierung der „Dreigroschenoper“ im Moskauer Theater Satirikon hat über eine halbe Million Dollar gekostet, und jede farbige Lichtkaskade, die den Pseudolondoner Nebel durchdringt, will daran erinnern.

Mit Hilfe des Illusionskünstlers Roman Zitelaschwili hat Theaterleiter Konstantin Rajkin Brecht auf die Bühne gebracht und spielt selbst den Mackie Messer. Brecht für Reiche und für Leute, die sich anschauen wollen, wie in Moskau einer ein Stück für Reiche inszeniert. Dieser eine ist der Regisseur Wladimir Maschkow, der zu spektakulärem und aggressivem Theater neigt: „Das Theater hat kein Recht, seiner Zeit allzusehr vorauszueilen. Wenn sie dich im Theater in dieser Minute nicht verstanden haben, dann werden sie dich in einer Stunde erst recht nicht mehr verstehen.“

Eine riesige London-Bridge überspannt die gähnende Bühne des einstigen Moskauer Uraufführungskinos. In den Wolkenkratzern dahinter erstrahlen und verlöschen die Fenster einzeln. Um die schlechte Akustik des Saals auszugleichen, wurde eine Mammutstereoanlage geleast. Die Kostüme sind vom Feinsten. Mackies Frack hat drei Millionen Rubel gekostet, umgerechnet sind das 900 Mark, die verdienen viele MoskauerInnen gerade mal im halben Jahr. Der Bühnenaufbau dauert jedesmal zwei Tage.

Achtmal im Monat wird das Stück gespielt, immer sind die 1.000 Plätze besetzt. Die teuersten Karten kosten umgerechnet 75 Dollar und werden ihren Käufern ins Haus gebracht, die billigsten drei Dollar. Rajkins „Dreigroschenoper“ ist heute die einträglichste Vorstellung in der Hauptstadt.

Im Programmheft des Satirikon wird das Genre der Aufführung als Comic strip bezeichnet. Dementsprechend entwickelt sich die Handlung Schlag auf Schlag, die Figuren bleiben meist zweidimensional. Konstantin Rajkin, „Kostja“ genannt, hat zudem Ähnlichkeit mit Mickymaus. Sein Vater, Arkadi Rajkin, war in und nach der Stalinzeit Kabarettist Nummer eins der UdSSR. Das Mammutkino wurde ihm als Kleinkunstbühne zugeteilt. Rajkin junior nun verkündete vor zehn Jahren, die plastischen Bewegungen seien die Achillesferse der russischen Schauspielkunst, er aber werde damit Schluß machen.

Als Mackie Messer hat Rajkin dieses Ziel erreicht. Wie er auf dem Flügel und mit den Prostituierten tanzt, wobei er den Kopf immer so dreht, daß er den nächsten Milizionär nicht aus dem Auge verliert, das macht diesem Slapstickartisten so leicht keiner nach. Auch sein hampelndes, kletterndes und prügelndes Ensemble zieht mit – perfekt koordiniert. Heraus kommt dabei zunächst einmal eine grandiose Show.

Jonathan Peachum, Inhaber der Firma „Bettlers Freund“, hat das Monopol für die Vergabe für Bettellizenzen in London. Seine hübsche Tochter Polly heiratet heimlich den Banditen Mackeath mit dem Spitznamen Mackie Messer. Mackeaths Rechnung, mit dieser Eheschließung einen Anteil an Peachums Imperium zu erwerben, geht nicht auf. Dem Bettlerkönig gefällt der Schwiegersohn nicht, er drängt den Polizeichef Tiger- Brown, Mackie zu verhaften. Obwohl Tiger-Brown und Mackie beim Militär Kumpel waren, endet der Räuber nach einigen Verwicklungen mit dem Kopf in der Schlinge. Im Originaltext kommt in letzter Minute ein reitender Bote der Königin und verkündet seine Begnadigung.

Regisseur Maschkow zeigt den Polizeichef nicht, wie üblich, als verschwitzten Bullen, sondern als coolen Bürokraten, der sich privat etwas Herz gestattet. Dieses Bild ist nahe dran an der russischen Gegenwart. Auch läßt Maschkow die Frauen in der „Dreigroschenoper“ nicht singen – vermutlich, weil seine Darstellerinnen es nicht können. Bei dem Song „Soldaten wohnen auf den Kanonen“ gerät der Flügel statt dessen tatsächlich zum Panzer, auf dem Milizionär Brown und Mafioso Mackie sentimental in ihre Jugend zurücksinken.

Und während die Räuberbraut Polly (Natalija Wdowina) rührig als Flintenweib exerziert, grölen sie einträchtig das Lied von den Soldaten: „Wenn es mal regnete und es begegnete ihnen 'ne neue Rasse, 'ne braune oder blasse, da machten sie daraus ihr Beefsteak Tartar.“ Die Wut und Brutalität, die die Akteure da zeigen, ist nicht von gestern. Die songbegleitenden Gewehrschüsse funktionieren als Variante des urrussischen Wong!- Wong!. Maschkow hat die gemeinsame Kommißzeit von Brown und Mackie von Indien nach Afghanistan verlegt. Was nicht mehr nötig gewesen wäre.

Anstatt durch Gesang versucht Polly Peachum übrigens mit einem anmutig zelebrierten Zauberkunststück zu beeindrucken, in dessen Verlauf sie sich mit Hilfe eines geisterhaft auftauchenden, scheinbar leeren Mantels selbst mit Schmuckstücken behängt. Natalija Wdowina hat die Tricks zwei Monate lang geprobt.

Was sie, im Gegensatz zu Illusionskünstler Roman Zitelaschwili, nicht wußte: Die Nummer ist als Eigentum der amerikanischen Berufsmagierin Tina Lennert urheberrechtlich geschützt. Entsprechende Enthüllungen konterte Zitelaschwili gelassen. Er will Tina Lennert einladen, wenn sie im August zum Magierkongreß nach Moskau kommt, und hofft, daß ihr seine Interpretation gefällt. Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg und überhaupt: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.

Fast alle heutigen russischen Theaterkritiker halten Brecht für erzdogmatisch und politisiert bis zur Halskrause. Sie beweisen damit geringe Kenntnis seines Repertoires. „Brecht darf sich ausruhen. Und soll er nur. Alle amüsieren sich auch ohne ihn (vielmehr gerade ohne ihn)“, schrieb zu Maschkows Inszenierung die Komsomolskaja Prawda. Die Bürgerrechtlerin und Skandalnudel Walerija Nowodworskaja gestand Brecht kürzlich in der Wochenzeitschrift Neue Zeit zwar ein Quentchen Verdienst am Amüsement der Zuschauer im Theater Satirikon zu, meint aber, Rajkin habe hier aus einem „sozialistischen ein bourgeoises Manifest“ gemacht.

Nowodworskaja zählt die „Dreigroschenoper“ des Satirikon zu den Marksteinen während der „Liberalisierung der sowjetischen Gemeinschaftsküche“. Gleichwohl war Brecht, den man für die RussInnen heute angeblich erst vom Kopf auf die Füße stellen muß, im letzten Winter der heißeste Tip auf russischen Bühnen. Allein die „Dreigroschenoper“ läuft zur Zeit in Moskau an vier Theatern.

Das 1928 in Berlin uraufgeführte Drama gewann einst so manchen Überraschungseffekt aus der Gleichsetzung der Welt der Verbrecher mit der Welt der bürgerlichen Geschäftsleute. Bevor Mackie Messer als altmodischer Bravour-Räuber endgültig gegen das modern durchorganisierte Peachum-Unternehmen verliert, stellt er, am Galgen, die berühmte Frage: „Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ In Rußland, wo in den letzten paar Jahren Hunderte von Banken gegründet wurden, weiß jeder, mit welchen Geldern.

Als Urbild des neurussischen Businessman tritt im Satirikon der Bettlerkönig Jonathan Peachum auf. Für diese Rolle hat sich Regisseur Maschkow den Fernsehshowmaster Nikolai Fomenko (35) geschnappt, dessen allsonnabendliche Sendung „Imperium der Leidenschaften“ eine Art televisionäres Ausziehpoker ist. Untersetzt, mit rapide fortschreitenden Geheimratsecken und einer fettig- brünetten Elvis-Tolle, verströmt er fieslich-biederen Charme. Als „Papa“ Peachum wuselt er in einem superedlen, knöchellangen Kamelhaarmantel unselig auf der stählernen London-Bridge herum.

Bei all seinen finanziellen Erfolgen kauft sich der Bettlerkönig die Rolle des klassischen „Geschäftsmannes“ selbst nicht ab. In seinen Schriften zur „Dreigroschenoper“ beschreibt Brecht als Devise Peachums: „Ich befinde mich auf der Welt in Notwehr“, und fährt fort: „Ihm, der alles bezweifelt, was Hoffnung erwecken könnte, erscheint auch das Geld als ein völlig unzulängliches Verteidigungsmittel.“ Fomenko-Peachum schafft es, ein unsichtbares Band ebenso zu den 3- wie zu den 75-Dollar-Plätzen zu weben. Er ist die Seele einer Nation in Notwehr. Seine Zukunft läßt sich nicht voraussagen, weder mit Philosophie noch mit Wissenschaft.

Die Mafia der nächtlichen Räuber und die Tages-Mafia der Bettler und Bankiers haben am Ende des Stückes ihre Einflußsphären neu aufgeteilt. Nur für heute. Die moderne Technik erinnert das Publikum bei dieser Inszenierung daran, daß alles nur ein Spiel ist. Sie ersetzt somit den ganzen Trödel der Brechtschen Verfremdungsmethode: Drehorgeln, Bänkelsänger und Schildchen mit Songtiteln.

So setzt Maschkow am Ende auch nicht auf den reitenden Boten. Das Ensemble verneigt sich schon zum Schlußapplaus, als Kostja Raikin noch immer in der Schlinge strampelt und von seinem Galgen krächzt: „Ihr haltet es wohl nicht für nötig, mich abzuknüpfen?!!“