Die IRA sagt Londons Rush-hour ab

Nach einer ganzen Serie von Bombendrohungen der irischen Untergrundorganisation IRA mußten Bahnhöfe geschlossen und Autobahnen gesperrt werden. Die Taktik geht auf  ■ Aus Dublin Ralf Sotscheck

Mit einer Reihe von Bombenwarnungen hat die Irisch-Republikanische Armee (IRA) gestern in den frühen Morgenstunden London in Aufregung versetzt – zur Rush-hour befand sich die britische Hauptstadt und Teile Südostenglands in heillosem Chaos. Der Anrufer hatte sich mit einem IRA- Codewort gemeldet, das der Polizei bekannt ist.

Betroffen waren sämtliche Verkehrsmittel: Vier Bahnhöfe im Londoner Stadtzentrum und alle drei Stationen in Watford bei London mußten geschlossen werden. Charing Cross, Knotenpunkt für den Pendelverkehr aus dem Süden und meistbenutzter Bahnhof Britanniens, mußte evakuiert werden, ebenso wie mehrere U-Bahnhöfe in der Stadtmitte. Drei der vier Londoner Flughäfen stellten vorübergehend den Flugverkehr ein, Gatwick war bis zum Nachmittag außer Betrieb.

Auch im Hafen von Dover gab es Bombenalarm. Aus demselben Grund mußten viele Straßen gesperrt werden, darunter Trafalgar Square, so daß zahlreiche Busse gar nicht erst die Depots verließen. Auf der Londoner Ringautobahn M 25, die teilweise gesperrt wurde, kam es zu einem 20 Kilometer langen Stau. Der Automobilclub RAC sagte, der Westen und das Zentrum Londons seien dicht, die Leute sollten zu Hause bleiben.

Labour-Chef Tony Blair sagte, die IRA-Aktion sei „unerträglich“ und darauf ausgerichtet, den britischen Wahlkampf zu stören. Der britische Premierminister John Major lobte „die stoische Ruhe und die gute Laune“ der Londoner und fügte hinzu, er empfinde Verachtung für die IRA. Man müsse die Bombenwarnungen ernst nehmen, da die IRA „in der Vergangenheit getötet hat und nicht zögert, es wieder zu tun“.

Am Freitag waren in Nordengland zwei IRA-Bomben in Doncaster und Leeds explodiert. Darüber hinaus warnte die IRA vor zahlreichen weiteren Bomben an Verkehrsknotenpunkten, so daß sämtliche Nord-Süd-Verbindungen für Stunden unterbrochen waren. Anfang des Monats gab es bereits Anschläge auf kleinere Bahnhöfe und die wichtigsten Autobahnen M 1 und M 6, vor zwei Wochen mußte das größte englische Pferderennen, das Grand National in Aintree, wegen Bombenwarnungen um zwei Tage verschoben werden.

Das Ziel der IRA liegt auf der Hand: während des britischen Wahlkampfs soviel Aufsehen erregen wie möglich, ohne dabei das Leben von Unbeteiligten zu gefährden. Der Vizepräsident der Sinn Féin, des politischen Flügels der IRA, Martin McGuinness, weigerte sich, die IRA-Aktionen zu verurteilen. Er habe solche Verurteilungen stets als britisches Propaganda-Wortspiel erachtet. Der Parteitag von Sinn Féin, der vorgestern in Monaghan an der Grenze zu Nordirland stattfand, war nicht mehr als eine Pflichtübung. Sinn Féin wartet auf Tony Blair und seine designierte Nordirland-Ministerin Mo Mowlam, die Sinn Féin an den Runden Tisch bitten sollen, wenn die Friedensgespräche nach den Wahlen wiederaufgenommen werden. Aber ohne einen neuen IRA-Waffenstillstand wird auch Blair nicht dazu bereit sein, selbst wenn Sinn Féin den einen oder anderen Unterhaussitz ergattern sollte. Offiziell rechnet die Partei mit drei Sitzen, hinter vorgehaltener Hand räumt man ein, daß es vielleicht zwei werden.