Frankreichs Präsident Chirac ist auf der Flucht nach vorn: Am 25. Mai wird gewählt. Die knappe Frist soll die Opposition unter Druck setzen, die Wahl selbst Klarheit vor der prekären Euro-Entscheidung im nächsten Jahr schaffen Aus Paris Dorothea Hahn

Der Zwang zu einem neuen Rhythmus

Und plötzlich ist wieder Wahlkampf. Staatspräsident Jacques Chirac hat ihn verordnet, knapp zehn Monate vor dem regulären Wahltermin. Die Gründe? Das „Interesse des Landes“, das „Elan“ und „Rhythmus“ für eine „neue Etappe“ brauche. Eine anstehende „tiefgehende Staatsreform“. „Europa“, das „manchmal Einschränkungen“ verlange, aber der richtige Weg sei. Und die „Ideale der Republik“, zu denen auch eine „wiedergefundene politische Moral“ gehöre.

Zehn Minuten sprach Chirac so im französischen Fernsehen. Die eigentlichen Gründe für die Parlamentsauflösung und die Neuwahlen am 25.Mai und 1.Juni nannte er nicht. Dabei sind sie einfach: Der neogaullistische Präsident will lieber jetzt eine knappe Mehrheit im Parlament gewinnen, die ihm bis zum Ende seiner eigenen Amtszeit im Jahr 2002 freie Hand gibt, als eine Niederlage im nächsten Jahr riskieren, wenn der Wahltermin noch mit kritischen letzten Abstimmungen für den Euro zusammengetroffen wäre.

Artikel 12 der Verfassung macht das Manöver möglich. Viermal haben Chiracs Vorgänger seit 1962 davon Gebrauch gemacht. Allerdings hatten sie jeweils handfeste politische Gründe. Manifeste politische Krisen im Land oder – im Fall von Mitterrand – erdrückende Mehrheiten der gegnerischen Parteien im Parlament. Bei Chirac sieht das anders aus: Er verfügt über massive absolute Mehrheiten in allen gewählten nationalen Institutionen, das Volk ist weitgehend friedlich, und unerwartete wirtschaftliche oder außenpolitische Entwicklungen gibt es nicht. Der Euro ist schließlich seit Jahren vertraglich geplant, und die Arbeitslosigkeit steigt seit 1981 unablässig an. Aber: Jedesmal wenn ein Präsident vorzeitige Neuwahlen auslöste, bekamen die ihn unterstützenden Parteien die Mehrheit. Dieses Mal sind die Franzosen verdrossener und unentschiedender als je zuvor. Sämtliche großen Meinungsforschungsinstitute haben zwar Wahlsiege für die beiden konservativen Regierungsparteien, die liberale UDF und die neogaullistische RPR, prognostiziert – wenngleich mit bis zu 150 Parlamentssitzen weniger als heute –, doch alle berichten auch von rund 40 Prozent „unentschiedenen Wählern“.

Chiracs „Putsch“ setzt Opposition unter Druck

Genau diese Unentschiedenheit müssen die Oppositionsparteien, die Chirac kalt erwischt hat, ausnutzen. Die mitten in der „Mutation“ ihrer einst stalinistischen Partei befindlichen Kommunisten nannten die Parlamentsauflösung einen „ultraliberalen Putsch“. Die Sozialisten, die gerade noch Zeit hatten, ihre Wahlkreise mit vielen jungen Leuten und 30 Prozent ebenfalls oft unbekannten Frauen zu besetzen, erkannten Chiracs „Eingeständnis des Scheiterns“ und seine „Flucht nach vorn“. Und die rechtsextreme Front National, der 14 Prozent und zwei Parlamentssitze vorhergesagt werden, spricht von „Wahlüberfall“.

Knapp fünf Wochen hat die Opposition nur Gelegenheit, sich auf die Neuwahlen vorzubereiten. Sozialistenchef Lionel Jospin tat es als erster: Am Montag abend hielt er kurz nach dem Staatspräsidenten eine Ansprache, in einer Pose, als wolle er sich der Nation und ihrem Präsidenten gleich in der Rolle des künftigen Regierungschefs – und Kohabitationspartners mit einem konservativen Präsidenten – vorstellen.

Im Gegensatz zum Mai 1995, als es um die letzte Schlacht um das Präsidentenamt ging, hat nicht Chirac dieses Mal „soziale Ausgrenzung“ beklagt, von „der französischen Sonderrolle“ in Europa gesprochen, die er garantieren werde, und schon gar nicht von einem Referendum über den Euro, wie er es einst angekündigt hatte. Diesen – eher sozialen und ein bißchen europakritischen – Part übernahm jetzt Jospin. Er kündigte „Nachverhandlungen“ über den Euro an, den er im Prinzip bejaht, aber sozial verträglich gestalten will. Jospin, der bereits eine kleine Einigung mit den französischen Grünen gefunden hat, will in den nächsten Tagen auch Gespräche mit den Kommunisten über eine Zusammenarbeit führen. Wie das angesichts der grundsätzlichen Opposition der Kommunisten gegen den Euro möglich sein soll, erklärte er nicht. Zusätzlich erschwerend erinnerte die linke interne Opposition aus der KPF gestern eindrücklich an den Verrat der Sozialisten während der 80er Jahre.

Frankreich, das gegenwärtig offiziell knapp 13 Prozent Arbeitslose hat, ein Staatsdefizit von im vergangenen Jahr 3,8 Prozent und ein erwartetes Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent, bereitet sich auf sein voraussichtlich letztes Parlament dieses Jahrhunderts vor. Solange wird die nationale Politik stagnieren. Unter anderem wird auch das salbungsvoll betitelte „Gesetz gegen die soziale Ausgrenzung“ nicht vorankommen, ein Vorhaben von eher symbolischer als praktischer Bedeutung. Es war jedoch monatelang als eine der wichtigen Reformen Chiracs und seiner Regierung angekündigt worden, und die Debatte darüber hatte in der vergangenen Woche mit einem spektakulären Auftritt der in der Armenbetreuung tätigen De-Gaulle-Nichte Genevieve begonnen. Dieses Gesetzgebungsverfahren muß jetzt völlig neu in Gang gesetzt werden, wenn gewählt worden – und vermutlich alles beim alten geblieben ist.