Poetologie des Kinnhakens

■ Der französische Philosophieplauderer Jean Baudrillard verbreitet mal wieder seine fügsamen Erzählungen über das Verschwinden der Wirklichkeit

Jean Baudrillard ist wieder da! Der französische Zeitgeistrodler, Medientheoretiker und Soziologe vollbringt das Kunststück, seit über zwanzig Jahren mit leichten Variationen auf ein- und dasselben Konzept abzufahren – der „Simulation“.

Ihm zufolge rutschen wir mit apokalyptischem Drive in die undurchdringliche Allgegenwart des Scheins. Alles ist Fernsehen, so die mitreißende Botschaft, nichts ist so wirklich echt. Die Welt ist sich ihr eigener Ersatz geworden, eine Realität, an der wir uns mit Gewißheit orientieren könnten, ist verschwunden. Und als ob wir es nicht schwer genug hätten, ist uns auch noch dieses Verschwinden verschwunden.

Das alles klingt zugegebenermaßen paradox, es stellt sich die Frage, von wo aus eine solche Erkenntnis möglich sein soll. Aber solche Zweifel erzählt uns Baudrillard einfach weg. Glatt und flüssig gleitet er durch den Medienkanal.

Denn auch im Leben

geht's mal daneben,

und nicht für jeden

ward ein Reim gegeben...

...oder 'ne Theorie. Baudrillard schreibt unermüdlich an einer Art Poetologie des Kinnhakens. Abgebrüht, wie er sich gibt, ist er doch ein tief Enttäuschter, dem die sündige, verderbte und ach! so käufliche Welt wie ein gewaltiger Fausthieb immerzu entgegenschlägt. Alles reimt sich hier auf Geld und ist bis in die Haarspitzen warenförmig. Baudrillard möchte diesen ganzen Schlamassel in einer letzten großen Überbietung hinter sich lassen. Deswegen gibt er sich ungereimt, manchmal anmaßend.

Für ihn hat sich mit dem Marktprinzip auch das prinzipiell Böse globalisiert. Die Welt wird in ihrem Innersten durch das „perfekte Verbrechen“zusammengehalten. Dabei will Baudrillard nicht unbedingt moralisch verstanden werden. Vielmehr sieht er in unserer durchkommerzialisierten und zugleich komplexen Welt ein „Prinzip der Umkehrung“am Werke, das auch die frömmsten Absichten und die edelsten Handlungen in ihr Gegenteil verkehrt. Das perfekte Verbrechen: Auch die persönliche Freiheit und Entscheidung, meine Realität und damit mein Selbst wurden also ermordet.

Verbrechen? Klingt gar nicht so schlecht, denken wir und planen unseren ersten Coup:

Kein Gedicht und auch kein Reim,

eine große Bank soll's sein.

Wenn das mal gut geht... Geht's natürlich nicht, wir ahnen es.

Von Baudrillard ist ungefähr soviel zu erwarten wie von den drei Rrrrriot-Girlie-Holographien Tic Tac Toe: ein Tritt in die Weichteile des Patriarchats. Jedes Jodeldiplom bringt mehr!

Wie schade, das bleibt Innendekoration – wie eine Fototapete in der Gefängniszelle. Baudrillard gibt sich als Ausbrecher, doch ist er eigentlich der folgsamste Gefangene. Das mag nicht immer leicht zu ertragen sein, mithin ist es verwirrend. Wo bin ich? Baudrillard scheint das nicht immer zu wissen, wissen zu wollen, etwa, wenn er in der vom französischen Rechtsradikalen Alain de Benoist herausgegebenen Zeitschrift Krisis seine Schmähreden gegen die abstrakte Kunst schleudert. Ach ja, das Böse ist immer und überall. Christian Schlüter

Di, 29. April, 20 Uhr, Kampnagel, k6