Das Proletariat mag lieber Gras

Keine Gerechtigkeit ohne Terror von unten: „Twin Town“ kommt im Schlepptau von „Trainspotting“ als schottische Provinzposse für zwei arme Burschen aus einer „Pretty shitty city“ voller Kampftrinker und Althippies  ■ Von Harald Fricke

Tom Jones kommt aus Wales, Anthony Hopkins auch und einige der besten Rugbyspieler der Welt. Überhaupt sind die Wiesen noch immer grün und voller Schafe, weshalb die meisten Urlauber dort gerne ihre Zeit mit Camping und Fahrradtouren verbringen. Das alles sind pittoreske Kleinigkeiten, mit denen der Film „Twin Town“ für sich wirbt. Mit einem Panoramablick fährt die Kamera im Vorspann über Arbeiterhäuschen, Möwen kreischen im Wind, und Petula Clark singt etwas vom Glück des Nachbarn, das doch für einen selbst immer unerreichbar bleibt. Manchmal winken auch ältere Leute und Kinder in Zeitlupe herüber. Alles sieht nach einer Spazierfahrt ans Meer aus.

Schöner wird es in „Twin Town“, dem neuesten Film über Freud und Leid der Arbeiterkultur made in UK, nicht mehr werden. Statt dessen läßt Regisseur Kevin Allen Pudel köpfen oder Wachhunde anzünden, und man fragt sich, wieso sich der britische Humor immer bloß am Elend anderer Leute abarbeitet.

Der Hafenort Swansea, eine „pretty shitty city“, die Dylan Thomas als „Friedhof allen Ehrgeizes“ bedichtet hat, wird wie ein heruntergekommenes Arbeitslosennest vorgeführt, in dem die Bevölkerung entweder säuft, kokst, kifft oder kleinkriminiert. Auch das ist nur ein Teil der Wirklichkeit. Das 50 Kilometer entfernte Cardiff etwa wird schon seit ein paar Jahren als neues suburbanes Zentrum mit Geldern der Europäischen Union gefördert, die Stadt ist mitsamt Fußgängerzone und Kunsthochschule rundum modernisiert worden. Das sind jedoch Zustände, für die sich, filmtechnisch gesprochen, im britischen Kino nach „Trainspotting“ niemand so recht zu begeistern scheint.

Das Leben ist schlecht – machen wir also einen Film über Sex, Geldgier und den hoffnungslosen Alltag nach 18 Jahren Tory-Regiment, mit einem Soundtrack voll zuckeriger Easy-Listening-Lieder und einem kleinen bißchen Horrorschau. Trotzdem orientiert sich Kevin Allen mit seinem Spielfilmdebüt offensichtlich am engagierten Sozialrealismus eines Ken Loach oder Mike Leigh. Früher hat der Waliser zwar politische Dokumentarfilme gemacht, „aber dafür hat sich keiner interessiert“. Was also kann ein verkannter Mittelklassejunge tun, wenn er nicht in einer Britpopband singt?

Bei Allen wird aus dem Unglück der Arbeiterklasse allerdings eine Lachnummer über den steten Abstieg des White Trash. Selbst die Zeitschrift Face, in Stilfragen sonst eher dem Punkrock-Revival verpflichtet, mochte „Twin Town“ nicht sonderlich, weil er würdelos mit seinen Charakteren umgeht. Alles kommt etwas zu abgebrüht überzeichnet daher: Die Lewis-Familie ist arm, aber fröhlich, ihre Freunde sind Kampftrinker oder Althippies, die vom eigenen Karaoke-Club auf den Balearen träumen, und die beiden Söhne fragen sich gegenseitig beim Fußballquiz ab, wenn sie nicht mit gestohlenen Autos andere Autos zu Klump fahren oder sich mit Pillen, Hasch oder magischen Pilzen einen gemütlichen Tag machen.

Auf der anderen Seite steht dieser doch irgendwie friedfertigen, weil ohnehin abgeschlossenen Welt der Underdogs der Bauunternehmer Bryn Cartwright turbokapitalistisch entgegen: Während er dem Vater Lewis nach einem Arbeitsunfall die finanzielle Unterstützung verweigert, gibt er sich abends gerne als Bohemien, der Cocktails für alle mixen läßt.

Schon an den Drogen kann man Gut und Böse auseinanderhalten: Das Proletariat mag lieber Gras, die Korruption nimmt Kokain. Schnell sind da Grenzen und Konfliktlinien ausgemacht, wo man vorher noch gemeinsam am Tresen einen gehoben hat.

Die Widersprüche gehören zum Konzept des Films, in dem Gerechtigkeit nicht ohne den Terror von unten zu haben ist. Zwar erinnern die comichaften Hooligan-Auftritte der hauptdarstellenden Brüder Llyr Evans und Rhys Ifans an die Droogs aus „Clockwork Orange“, doch Kubricks Jugendstudie habe er noch nie gesehen, meinte Kevin Allen ein wenig überrascht zur Berlinale-Pressekonferenz von „Twin Town“. Wie sollte er auch? Der Film ist in England verboten, nur merkt man es dem jungen britischen Kino kaum an: „Trainspotting“ war im letzten Jahr so erfolgreich wie zuletzt 1980 „Chariots of Fire“.

Ein Hoch auf den Flachwitz!

Für einige Zeit bleiben den zugerauchten Clowns jedenfalls zwei ebenso tolpatschige Polizisten auf den Fersen, die nebenbei in großen Mengen mit „Schnee“ dealen, wie Terry gern sagt, weil das mehr nach Al-Pacino-Filmen klingt. Er selbst sieht ein wenig wie Quentin Tarantino aus und schlägt entsprechend oft und genußvoll zu. Sein Kollege Greyo bevorzugt dagegen Fesseln und Oralverkehr, hat aber ein gutes Herz. Mit solch gängigen Actionzitaten hält sich Allen ein junges Publikum warm, das übrige Personal wirkt dagegen so kurios wie die Schauspieler von Willy Millowitsch oder aus dem Ohnsorg- Theater.

Ein Hoch auf den Flachwitz: Überhaupt ist „Twin Town“ eher eine Lausbubengeschichte aus dem Provinzleben nach Art von Ludwig Thoma, wäre da nicht die konstant abgefeierte Brutalität, mit der sich schon „Shallow Grave“ auf dem Markt behaupten konnte. Zielstrebig haben Danny Boyle und Andrew Mac Donald aus dem „Trainspotting“-Team auch diesen Film mitproduziert, weil sie „Gewalt für ein angemessenes Mittel zur Steigerung der Dramatik halten“, so Mac Donald.

Anders als bei Kubrick aber bleibt das Verhältnis zur Gewalt in „Twin Town“ eindeutig, schwerst kathartisch, stumpf und manchmal auch lustig.

Plötzlich sitzt ein unschuldiger Bauer nackt am Straßenrand und tätschelt lachend ein Schwein, weil die Pilze wirken. Ansonsten entwickelt sich die Story vom Land ganz langsam zur shakespearianischen Schlachteplatte: Die Lewis- Eltern werden mit ihrem zugemüllten Wohnwagen in die Luft gesprengt, der Topmanager hängt irgendwann aufgeknüpft in seiner Garage, und den Cop versenkt man zum Finale lebendig an einen Sarg geknotet, während der alte Lewis wiederum recht anrührend von einem Männerchor auf See bestattet wird. Das alles kommt sehr unvermittelt, wie ein Schlag in die Magengrube. Irgendwie britisch eben.

„Twin Town“. Regie: Kevin Allen. Mit Llyr Evans, Rhys Ifans, William Thomas, Sue Roderick, u.a. GB 1997, 99 Min.