■ Die Bundesärztekammer entscheidet über neue Sterbe- hilferichtlinien. Die Grenzen zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe, zwischen Töten und Sterbenlassen fließen
: Ist ein Tabubruch erforderlich?

Sigmund T. (Name geändert) liegt seit Wochen unheilbar krebskrank in einem Kölner Krankenhaus. Die Ärzte haben ihre Therapieversuche eingestellt, eines Abends teilen sie der Ehefrau mit, daß sie nun die intensivmedizinische Betreuung einschließlich der Flüssigkeitszufuhr abstellen. Doch am nächsten Tag lebt Sigmund T. noch, stöhnt, röchelt, seine vertrockneten Lippen platzen auf. Die Zeit verrinnt, ohne daß die Ärzte eingreifen. Erst nach massiver Intervention der Ehefrau wird nach zwei Tagen wieder mit der Flüssigkeitszufuhr begonnen. Siegfried T. stirbt eine Woche später.

Die Mehrzahl der Sterbenden verbringt hierzulande ihre letzten Stunden eingeengt zwischen Ernährungsschläuchen und Infusionskanülen. Was ist solches Sterben noch anderes als ein vorweggenommener sozialer Tod? Kein Wunder, daß der Wunsch nach einem raschen Ende wächst. Selbst kritische Theologen wie Hans Küng fordern den Tabubruch, eine gesetzliche Festlegung der Verantwortlichkeiten bezüglich Tötung auf Verlangen, Hilfe zur Selbsttötung und Tötung ohne ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen. Sterbehilfe ist nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes derzeit „nur entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zulässig, um dem Sterben seinen natürlichen (...) Verlauf zu lassen“. Doch die Grenzen zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe, zwischen Töten und Sterbenlassen fließen: Mit dem Zuwachs chronischer Erkrankungen wächst die Zahl der Sterbenden, deren Sterben sich über Monate hinwegzieht.

Streng von der Öffentlichkeit abgeschirmt, hat der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) über eine Neufassung der Richtlinien zur ärztlichen Sterbebegleitung zu entscheiden. Soll zukünftig wie in der Schweiz ein Behandlungsabbruch auch bei Patienten zulässig sein, bei denen der Sterbevorgang überhaupt noch nicht eingesetzt hat? Und heißt Behandlungsabbruch auch Stopp von Betreuung und Basispflege? Begleitet vom öffentlichen Sperrfeuer gegen die drohende „Rentnerschwemme“ und den übermäßig hohen Anteil der Krankenkosten für die letzten Lebensjahre, zielt die Novellierung nicht zuletzt auf Menschen in einem dauerhaften Koma („apallisches Syndrom“). Bei diesen steht in der Regel der Tod nicht unmittelbar bevor, auch können Apalliker noch nach Monaten ihr Bewußtsein wiedererlangen, und es gibt durchaus Rehabilitationserfolge. Trotzdem sollen sie mit der Rede von den lebenden Leichen zum Opfer von Sparzwängen werden. Die Göttinger Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert befürwortet den Verzicht auf Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, weil diese Patienten zu keiner „bewußten Schmerzempfindung mehr fähig“ seien. Ihre Versuche, zu kommunizieren, zählen nicht. „Leiden und Aufwand für Familie und Freunde sowie der Verbrauch (knapper) Ressourcen“ sprächen für ein „Verhungernlassen“. Auch wenn eine über Monate hinweg sich erstreckende künstliche Ernährung sicher den Charakter eines aggressiven Eingriffs annehmen kann, kommt die sich ausbreitende Bereitschaft zur pauschalen Verweigerung dieser Hilfe einem Bruch mit der karitativen Tradition der jüdisch-christlichen Kultur gleich. Geht es doch nicht mehr um Sterbende, für die ein Weiterleben eine unerträgliche Last bedeutet, sondern darum, das Sterben jener zu beschleunigen, die für andere zur Last werden.

Die Brisanz der Sterbehilferichtlinien besteht in deren Verbindung mit Veränderungen unseres lebenskulturellen Umgangs mit Tod und Sterben aufgrund demographischer Entwicklungen und wirtschaftlicher Engpässe im Gesundheitswesen. Beide Entwicklungen fordern eine Bereitschaft zum Teilen, die aber bröckelt. Die als „Dehydratisierung“ umschriebene Gefühlskälte, Sterbenden das Reichen von Flüssigkeit zu verweigern, ist nur die Spitze des Eisberges einer verbreiteten Klischeebildung über das Hochbetagtsein, die im Medizinbetrieb längst mit handfesten Diskriminierungen einhergeht. Hierzu zählt die Altersrationierung medizinischer Leistungen, wo – bei Jüngeren selbstverständlich durchgeführte – Maßnahmen bei hochbetagten oder altersverwirrten Menschen unterlassen werden.

Die Negativbewertung des Hochbetagtseins aus der Perspektive der Jungen und Gesunden beeinflußt auch die je eigene Bewertung eines unbekannten Lebenszustandes, wie es Patiententestamente verlangen. Die Angst vor totaler Abhängigkeit, vor Anonymität und Kälte, die das Bild der Gesunden von den Intensivstationen prägt, ist nicht dasjenige von Patienten, die dem Bonner Neurophysiologen Detlef Linke auch von einem „Rückzug in die Innenwelt“ berichten, „wo ein Fest mit 1.000 Lichterkerzen sich abspielt“. Auch die verbreitete Angst vor unerträglichen Schmerzen hat mit den heutigen Möglichkeiten der Schmerztherapie ihre Berechtigung verloren. Die Forderung nach einem Recht auf ein natürliches Sterben ist vor allem Ausdruck fehlender Sensibilität gegenüber Lebensformen, die dem Jugendkult unserer Kultur zuwiderlaufen. Dieses Unverständnis unterstützen Medizinkritiker, die eine oft nicht mehr als „künstliche“ Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr umfassende Versorgung schon als „Apparatemedizin“ diskreditieren.

Postmodernes Sterben heißt, daß der Tod seiner Natürlichkeit entrissen, das biologische Kapital des Menschen in einem gewissen Sinne mach- und ausgestaltbar wird. Damit sind allgemeingültige Antworten zum Wie des Sterbens obsolet geworden. Das Ende der (biologischen) Natürlichkeit bei Tod und Sterben akzeptieren bedeutet indes nicht, die soziale Natur des Menschen zu ignorieren, indem Sterbende aus der sozialen Gemeinschaft herausgerissen werden. Sonst reduzieren sich Individualisierung und kulturelle Pluralisierung im Umgang mit dem Tod auf die Verstärkung sozialer Ungleichheiten noch im Sterben.

Ein Impuls zu einer wirklichen Sterbebegleitung, die ärztliches Tun auch als mitmenschliches Engagement begreift, geht vom vorliegenden Textentwurf der Sterbehilferichtlinien aber nicht aus. Allzusehr wird sich einem Dienstleistungsverständnis vom Arztberuf angepaßt – ein Verständnis, das Patienten einfordern und zugleich als kalte, unmenschliche Apparatemedizin kritisieren. Harry Kunz