„Mau“ ist doch nur die Regierung

Nach dem Marsch von 100.000 Landlosen in Brasilien muß Staatschef Cardoso eine Delegation im Präsidentenpalast empfangen. Über ein denkwürdiges Gespräch berichtet  ■ aus Rio de Janeiro Patricia Sholl

Aus den jüngsten landesweiten Protestaktionen ist die Bewegung der Landlosen in Brasilien erheblich gestärkt hervorgegangen. Die Führung des seit den 70er Jahren existierenden „Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra“ (MST) kündigt sogar neue Besetzungen brachliegender Latifundien an. Damit soll die Regierung in Brasilia gezwungen werden, mit der offiziell verkündeten Agrarreform endlich Ernst zu machen. Laut MST hat Brasilien 850 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche, von der mehr als die Hälfte brachliege. Diese Fläche soll an Hunderttausende von Landlosen- und Kleinbauernfamilien verteilt werden, fordert der MST. Laut Kirchenangaben hat die Agrarpolitik von Staatschef Cardoso, darunter die Marktöffnung für ausländische Produkte, etwa 800.000 Arbeitsplätze vernichtet und eine neue Landflucht ausgelöst. Cardoso, selbst Großgrundbesitzer, argumentiert, mehr als jeder seiner Vorgänger für die Agrarreform getan und Gebiete von der Größe Belgiens enteignet zu haben.

Dem widerspricht der MST vehement – zuletzt bei jener denkwürdigen Audienz vom vergangenen Freitag, die um ein Haar nicht zustande gekommen wäre: Cardoso paßte nicht, daß zur 25köpfigen MST-Delegation auch der Präsident der Ölarbeiter-Gewerkschaft, Antonio Carlos Spis, gehörte. Während im Erdgeschoß des Präsidentenpalastes noch verhandelt wird, ob der Mißliebige am Gespräch teilnehmen dürfe, verliert der Präsident ein Stockwerk höher die Fassung, haut zweimal wütend auf den großen Versammlungstisch und erklärt die Audienz in bellendem Ton für abgesagt. Doch dann wird ihm blitzartig der drohende politische Schaden klar, er macht einen Rückzieher und bittet die Delegation bis auf einen Bischof zu sich herein. Und muß ertragen, daß MST-Führer João Pedro Stedile den Ölarbeiterpräsidenten auch noch extra vorstellt und an eine der umstrittensten Episoden der Amtszeit von Cardoso erinnert:

1995 ließ die Regierung einen 31-Tage-Streik der Gewerkschaft verbieten, Panzer und Militärpolizei in Raffinerien einrücken. In einer beispiellosen Medienkampagne wurde den Ölarbeitern fälschlich die Schuld an einschneidenden Versorgungsmängeln gegeben. Das Oberste Arbeitsgericht verhängte eine den Gewerkschaftsbesitz übersteigende Geldstrafe von umgerechnet über 50 Millionen Mark. Das Parlament amnestierte die Gewerkschaft, doch Cardoso legte sein Veto ein, um das Ölarbeitersyndikat zu vernichten. Bei der Audienz am Freitag, so Antonio Carlos Spis zur taz, habe sich der Präsident mit dem Argument verteidigt, damals lediglich die Gesetze angewendet zu haben.

Am ovalen Palasttisch stellte MST-Führer Stedile zum weiteren Mißfallen Cardosos klar, daß der Movimento zur Opposition gehöre und sich um alle Belange der Nation sorge. Der Staatschef mußte auch noch gleich 25.000 Unterschriften gegen die Ende des Monats geplante Privatisierung der weltgrößten Eisenerzmine und ihrer hochlukrativen Zweigbetriebe entgegennehmen. Dann folgt Fundamentalkritik: An der Macht befänden sich dieselben Oligarchen wie zuvor. Entgegen der Regierungspropaganda erhöhe Cardosos Wirtschaftspolitik die Arbeitslosenrate, verschlechtere die Situation im Gesundheits- und Bildungsbereich. Zudem werde der MST infiltriert und ausspioniert, die Telefone würden abgehört. 42.000 Landlosenfamilien, die in Konfliktregionen unter elenden Bedingungen überlebten, müßten raschestmöglich Ackerflächen erhalten. Bis 1998 will der MST eine halbe Million Familien auf diesem Land ansiedeln.

Cardoso weist die MST-Lagenanalyse als unzutreffend zurück, bezeichnet das Lumiar-Projekt, wo angeblich Landlosenfamilien angesiedelt wurden, als einen Riesenerfolg. Lumiar sei 1996 mit 21 Millionen Real (rund 30 Millionen Mark) unterstützt worden. 1997 werde die Summe verdreifacht.

Der Präsident wiederholt damit jedoch nur, was in doppelseitigen Regierungsanzeigen der brasilianischen Massenblätter und im Propagandamaterial für Auslandskorrespondenten steht. Die MST-Delegation reagiert amüsiert – Stedile sagt, das Lumiar-Projekt gebe es nur auf dem Papier, es habe nie einen Real erhalten. Agrarreformminister Raúl Jungmann, dessen Rücktritt der MST seit langem fordert, bleibt nichts übrig, als Stedile zuzustimmen. Auch die katholische Kirche, über ihre Bodenpastorale CPT effizientester MST-Partner, hält die Regierungsangaben für manipuliert.

José Reinha, von Latifundistas und Rechtsparteien am meisten gehaßt, begann seine Arbeit in der Jugendseelsorge, war mehrfach eingekerkert und gilt als der einzige MST-Führer mit Charisma. Ein gegen Reinha vorliegender Haftbefehl war erst in der Endphase des jüngsten zweimonatigen Sternmarschs der Landlosen ausgesetzt worden. Der 37jährige verließ daraufhin sein Versteck und lief die letzten Kilometer bis Brasilia mit. Jetzt sitzt er sogar an Cardosos Audienztisch und besteht auch noch darauf, zur Bekämpfung von Hunger und Landflucht die Agrarproduktion der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt völlig neu zu organisieren.

Der Sternmarsch ist einmalig in der brasilianischen Geschichte, sogar 85- bis 89jährige sind vom ersten bis zum tausendsten Kilometer dabei. Marques da Silva, 60, hat vier Paar Gummisandalen durchgelatscht und an die fünf Kilo verloren. Er war an den meisten Protestaktionen beteiligt. Am 17. April 1996 stand er im Amazonasteilstaat Pará in einem Haufen protestierender Landlosenfamilien, als plötzlich 155 Militärpolizisten mit Maschinenpistolen das Feuer eröffneten. Nach offiziellen Angaben starben 19 „Sem-Terra“ im Kugelhagel, nach Erkenntnissen der Kirche jedoch 32. Kein einziger Schütze wurde bislang verhaftet, mit einem Prozeß ist, wenn überhaupt, nicht vor dem Jahr 2000 zu rechnen.

Ein Jahr später, bei der Schlußkundgebung der 100.000 Landlosen in Brasilia, steht Marques da Silva zum ersten Mal im Leben vor dem Palast Cardosos. Ein internationales Tribunal hat den Präsidenten und den Gouverneur von Pará, Almir Gabriel, im Dezember als Hauptverantwortliche des Massakers und anderer ungesühnter Bluttaten ausgemacht. Allein 1996 wurden mehr als 60 Landlose ermordet, während des Marschs fällt Landgewerkschaftsführer Francisco de Souza Silva in einem Hinterhalt. Die auch mit deutschen Kirchenspenden finanzierte Bodenpastorale CPT erinnerte vergangene Woche an Hunderte von weiteren Morden in der Region des April-Massakers: In einer Erklärung heißt es: „Eindeutig sind die Beziehungen zwischen dem organisierten Verbrechen sowie den Aktivitäten von Polizei und Justiz. Prozesse und Ermittlungen ruhen, Auftraggeber und Mörder ungezählter Blutbäder werden nicht bestraft und bewegen sich in der Region völlig frei.“ Auch Marques da Silva und andere werden nach wie vor von Militärpolizisten bedroht.

Nicht wenige Brasilianer halten den MST für eine Extremistentruppe, durchsetzt mit Guerilleros des „Leuchtenden Pfads“ aus Peru. Reporter stellten den Marschierern deshalb gerne provozierende Fragen. „Wer ist Mao?“ wollte einer von Alcides Oliveira, 44, wissen. Mao klingt wie „schlecht“ (mau) auf portugiesisch. Und Oliveira, der noch nie etwas vom chinesischen Revolutionsführer gehört hat, antwortete. „Mau ist die Regierung, weil sie uns Land verspricht und dann ihr Versprechen bricht!“

Das Attentat auf den Sternmarsch-Teilnehmer und Indio- Häuptling Galdino Jesús dos Santos bringt Cardoso jetzt in Argumentationsnöte und torpediert seinen Staatsbesuch in Kanada. Der Häuptling, der von fünf jungen Männern aus Brasilias Elitefamilien bei lebendigem Leib verbrannt wurde, ist vom Stamme der Pataxós in Südbahia. Die Pataxós empfingen 1500 als erste den Brasilien- Entdecker Pedro Álvares Cabral. Damals gab es über 5 Millionen Indios, heute nur noch rund 350.000.