Blade Runner läßt grüßen

Keine chirurgischen Beatschnitzereien, sondern Bässe, die Berge versetzen können: Das englische Label No U-Turn kommt auf DJ-Tour  ■ Von Stephan Schwarzer

Die beiden Musiker wirken müde. Dreizehn Interviews an einem Tag, das sind Nico Sykes und Ed Rush noch nicht gewohnt. Nächtelang in ihrem Studio-Loft im Londoner Stadtteil Acton die Zukunft von Drum'n'Bass zu programmieren ist das eine. „Torque“, das erste Album ihres Labels No U-Turn, zu promoten, eine andere, neue Erfahrung.

Aber sie nehmen es gelassen. Am Ende dieses sonnigen Frühlingstages ist die Stimmung entspannt. Man knufft sich in die Seite, wenn wieder ein „Chick“ am offenen Fenster vorbeiflaniert, nuckelt an lustigen Zigaretten und ist, bei aller Bescheidenheit, auf eine jungshafte, sympathische Weise auch ein bißchen stolz darauf, die halbe Welt in Aufregung versetzt zu haben.

Seit über einem Jahr geben Nico Sykes, Ed Rush sowie ihre beiden Mitstreiter DJ Trace und Fierce im Londoner Epizentrum von Drum'n'Bass den Ton an. Kennengelernt haben sie sich schon Anfang der Neunziger. Gut sieben Jahre lang haben sie jede freie Minute zwischen Breaks und Beats verbracht. Nur der 18jährige Nachwuchsstar Fierce ist erst vor kurzem dazugestoßen. Anfangs war er bei No U-Turn dafür zuständig, Tee zu kochen, White-Label zu stempeln und staubzusaugen. Heute gilt er dem 28jährigen Nico als wichtiger Kontakt zur jungen Basis der Szene und darf eigene Tracks produzieren.

1992 wurde mit der Maxi-Single „Bloodelott Artattack“ von Ed Rush die erste von inzwischen 18 Veröffentlichungen ihres bis heute in jeglicher Hinsicht unabhängigen Labels No U-Turn auf Vinyl gepreßt. Doch es sollte noch drei weitere Jahre dauern, bis aus ihrem Studio die musikalischen Vorgaben über die Welt kamen, an denen sich inzwischen alle maßgeblichen Kräfte in der Londoner Clubszene orientiert haben. Der DJ Trace-Remix des ehemals locker swingenden Hits „Horny Mutant Jazz“ von Ende 95 war nur der Anfang.

„Darkness“ heißt die Zauberformel, „Techstop“ der von ihnen selbst geprägte Begriff für den eigenen Stil. Metallisch klirrende, zerhackte Beats, bedrohliche Synthesizer-Wälle und vor allem die extrem verzerrten Bässe, die Berge versetzen können, sind die Markenzeichen des charakteristischen No-U-Turn-Sounds. Ein massiver „Future Funk“ von unglaublicher Intensität, der einen allein durch seine Energie und die schiere physische Präsenz überwältigt. Nicht die abstrakte, chirurgische Beatschnitzerei, wie sie andere Protagonisten vom Schlage eines Photek, Dillinja oder Source Direct betreiben, sondern relativ gerade nach vorn loshämmernde Clubtools. Oder, wie der für alle Tracks als Chefproduzent verantwortliche Nico meinte: „Das letzte, was ich will, wäre es, einen Track zu machen, den keiner wahrnimmt, wenn er läuft.“

Um geschmäcklerische Saxophon-Einsprengsel, gediegen plänkelnde Piano-Loops und lerchenhaft säuselnde Sängerinnen sollen sich gefälligst andere kümmern. Mögen die sich damit vergnügen, ihre Definition von Drum'n'Bass als Caféhausbeschallung oder Untermalung von Werbespots und Fernsehtrailern zu entsorgen. Die unrühmliche Entwicklung eines Genres namens Acid Jazz diene ihnen dabei als warnendes Beispiel.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Die Platten von LemonD oder Roni Size und Label wie Creative Source oder Full Cycle, um nur einige Beispiele zu nennen, haben ihren festen Platz in der DJ-Kiste eines Ed Rush. Und auch Nico respektiert und liebt deren Ansatz im Umgang mit Breakbeats. Dem Kritikpunkt, ihre Musik wäre depressiv und würde schlechte Laune verbreiten, können sie allerdings überhaupt nicht folgen. „Wenn ich das höre, werde ich nicht depressiv. Es begeistert mich und versetzt mich in Aufregung. Sobald ein Stück einsetzt, gehört ihm meine ganze Aufmerksamkeit. Da denke ich nicht mehr, oh, ich muß ja auch noch die Stromrechnung bezahlen“, bringt Nico die Dinge auf den Punkt.

Trotzdem ist diese Euphorie eine andere als die, die zum Beispiel ein glückseliger Disco-Sound vermitteln kann. Für Nico sind seine Produktionen keine Flucht aus dem Alltag, sondern eine direkte Reaktion auf ihn. „Allein dieser Verkehr in London, die Straßen sind permanent verstopft, überall das wuselige Gedränge, man opfert eine Stunde seiner kostbaren Zeit, nur um zu einem anderen Büro zu gelangen.“ Dem kann Ed Rush, der sich bis vor kurzem noch als Lieferwagenfahrer seinen Unterhalt verdient hat, nur beipflichten. „Man ist einfach so richtig geladen, wenn man abends ins Studio kommt.“ Überall herrscht eine kalte Hektik, und sie selber stecken mittendrin. Sie schlagen mit der gleichen geballten, bis in jede Faser angespannten Energie zurück, die das tägliche Leben für sie bereithält.

Die Gegenwart ist nur das eine; vor ihnen steht eine Zukunft, die zwar mit verheißungsvollen Technologien aufwartet, die aber auch berechtigte Befürchtungen aufkommen läßt, ob diese Technologien dem Menschen das Leben erleichtern oder ihn in ihren Schatten stellen werden. Der „Blade Runner“ läßt grüßen. Dem zuvorzukommen, indem man den Maschinen schon heute Klänge abfordert, um das dunkle Szenario eigenhändig zu entfalten, bevor man es passiv erleidet, mag vielleicht paranoid erscheinen.

Das Ergebnis klingt gefährlich und alles andere als charmant. Man kann sich daran stoßen. Aber faszinierend und mitreißend ist es auf jeden Fall. Und wenn es einen erst einmal überrollt hat, kommt man so schnell nicht wieder davon los.

„The No U-Turn Clubtour“

Termine:

25.4.: München, Ultraschall; 27.4.: Essen, Rote Liebe; 28.4.: Darmstadt, Café Kesselhaus; 29.4.: Köln, Alter Wartesaal; 30.4.: Hamburg, Mojo Club 1.5.: Berlin, Junglemania; 2.5.: Zürich, Rote Fabrik; 3.5.: Fribourg, Fri-Son

Das Line Up:

DJs: Ed Rush (No U-Turn, Metalheadz, Prototype), DJ Fierce (No U-Turn), DJ Bailey (Metalheadz, Resident: Blue Note Café, Leisure Lounge)

MC: MC Rhymetime

PA: Nico Sykes (No U-Turn)