Der Genozid verlief nach Plan

Vor zwei Tagen jährte sich der Völkermord an den Armeniern. Taner Akcam ist der erste Historiker, der die osmanischen Quellen ausgewertet hat  ■ Von Jürgen Gottschlich

Wenn man in der Türkei nach dem Völkermord an der armenischen Minderheit fragt, stößt man entweder auf vollkommenes Unverständnis oder auf eine scharfe Replik, in der darauf hingewiesen wird, daß es einen Völkermord niemals gegeben habe. Vielmehr, so die Lehrmeinung türkischer Historiker bis heute, gab es in den Kriegsjahren von 1915 bis 1917 Umsiedlungen von Armeniern, da diese potentielle Kollaborateure mit Rußland waren. Daß bei diesen Deportationen in die syrische Wüste, die immer noch so euphemistisch Umsiedlungen genannt werden, auch nach türkischen Angaben etliche Zivilisten starben (tatsächlich waren es mehr als eine Million), habe nun mal mit der Kriegssituation zu tun gehabt.

Das konsequente Leugnen des Völkermords in der Türkei hatte zur Folge, daß auch im Ausland, insbesondere bei dem damaligen türkischen Alliierten Deutschland, wenig über den ersten Völkermord dieses Jahrhunderts bekannt war. Daran hat sich im Prinzip bis heute nichts geändert, obwohl, neben den osmanischen Archiven, in Deutschland die meisten Dokumente über den Völkermord vorhanden sind. Die Täter sitzen weiterhin auf den Beweisen ihrer Schuld, während die Opfer sich immer noch verzweifelt darum bemühen, wenigstens im Rückblick von der Welt als Opfer des Genozids anerkannt zu werden.

Gegen diese planmäßige Verdrängung ist jetzt ein Buch erschienen, in dem erstmals in kritischer Absicht die osmanischen Quellen gesichtet, beschrieben und teilweise dokumentiert werden.

Mit seinem im vergangenen Herbst erschienenen Buch, „Armenien und der Völkermord“ – Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“ hat der in Deutschland lebende türkische Historiker Taner Akcam achtzig Jahre danach als erster begonnen, die weißen Felder der Erinnerung zu füllen. Dabei bedient Akcam sich einer Methode, gegen die auch in der Türkei schwerlich zu argumentieren sein wird, sofern das Buch jemals in türkischer Sprache erscheinen sollte.

Akcam hat Protokolle und Materialien der Kriegsgerichtsprozesse ausgegraben, die zwischen 1919 und 1921 gegen die Verantwortlichen des Völkermords in Istanbul geführt wurden. In der türkischen Öffentlichkeit wurden und werden diese Prozesse gemeinhin als Akt der Siegerjustiz gewertet, und es wird weitgehend verdrängt, daß es sich um türkische Militärgerichte und nicht, wie später in Nürnberg, um ein Kriegsgericht der Sieger handelte. Zwar kamen die Prozesse auf Druck der Briten und der anderen Beteiligten an den Friedensverhandlungen von Sevres zustande, Grundlage war jedoch eine Anordnung des Sultans und Beschlüsse der osmanischen Nationalversammlung in der Zeit von 1918 bis 1920.

Taner Akcam fand Unterlagen über 28 Kriegsgerichtsprozesse (möglicherweise hat es sogar mehr gegeben, und die Unterlagen sind vollständig verschwunden), in denen sowohl gegen die hauptverantwortlichen Minister des Kriegskabinetts und – wichtiger noch – den entscheidenden Leuten der damals herrschenden Einheitspartei „Ittihad ve Terakki“ verhandelt wurde, wie auch gegen Offiziere und Provinzgouverneure, die die Beschlüsse der Führung vor Ort umsetzten.

Obwohl im Prinzip zugänglich, sind diese Quellen bislang wissenschaftlich kaum genutzt worden. Aus offizieller türkischer Sicht verständlich, ist das Ergebnis für die Legendenbildung der Türkischen Republik doch verheerend. „Die Prozeßprotokolle und Dokumente belegen eindeutig“, so das Resümee Akcams, „daß der Völkermord eine zentral geplante, bürokratisch organisierte und durchgeführte Tat war, bei der staatliche Organe und Teile der regierenden Partei Ittihad ve Terakki zusammengearbeitet haben“. Das Buch Taner Akcams besteht aus zwei Teilen. Zum einen beschreibt und analysiert er die politischen und sozialen Bedingungen in der Endphase des Osmanischen Reichs, unter denen „das Projekt des Völkermords an den Armeniern“ entstehen konnte.

Im zweiten Teil werden dann die Prozesse vorgestellt. Obwohl Armenier im Osmanischen Reich immer wieder verfolgt wurden, war der Völkermord der am 24. April 1915 in Istanbul begann nicht einfach nur die Eskalation früherer Pogrome. Das Osmanische Reich hatte im 19. Jahrhundert nach und nach den größten Teil seiner westlichen Provinzen verloren.

Die Erneuerer des Reichs, die sogenannten Jungtürken, die sich in der Ittihad zusammenfanden, entwickelten schon früh die Vision eines neuen türkischen Großreichs nach Osten, eine Wiedervereinigung mit den asiatischen Turkvölkern sozusagen. Die armenischen Siedlungsgebiete aber liegen genau zwischen der Türkei und den asiatischen Turkvölkern. Durch einen armenischen Staat, so befürchteten die expansionswilligen Jungtürken, würde ihnen der Durchgang nach Osten zwischen dem Schwarzen Meer und dem Iran versperrt.

Dazu kam, daß vor allem das christliche Rußland im ausgehenden 19. Jahrhundert die armenische Karte spielte, um sich aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs im Osten zu bedienen. Unter diesen Bedingungen war die türkische Führung geradezu begierig, auf seiten Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, um im Osten eine Front gegen Rußland eröffnen zu können. Dabei sollte das armenische Problem gleich mit erledigt werden.

Die Durchführung des Völkermords wurde von den führenden Personen der Ittihad geplant, die dann wie Talaat Pascha und Enver Pascha während des Kriegs als Innen- bzw. Verteidigungsminister tätig waren.

Ähnlich wie später die Nazis gründete auch Ittihad durch die Partei gesteuerte Spezialkommandos, die dann den Terror in die armenischen Siedlungsgebiete trugen. Anhand der Kriegsgerichtsprotokolle läßt sich nachweisen, daß es außer den offiziell bekanntgegebenen Umsiedlungsbefehlen einen zweiten, verdeckten Befehlsstrang gab, durch den Gouverneure und andere für die Durchführung der Deportationen zuständige Polizeichefs oder Truppenkommandeure angewiesen wurden, armenische Zivilisten umzubringen.

Dazu kommen Zeitzeugenberichte, die das Grauen des Marschs beschreiben, auf dem die Armenier in die syrische Wüste getrieben wurden. Die wenigen, die dann noch dort ankamen, starben in den Todeslagern der Wüste.

Die Istanbuler Kriegsgerichte verhängten 17 Todesurteile gegen Organisatoren und Vollstrecker des Völkermords. Tatsächlich hingerichtet wurden drei Männer, die eher untergeordnete Rollen gespielt hatten. Viele prominente Ittihadisten ließ man laufen, oder sie blieben unbehelligt, weil sie bereits in der türkischen Befreiungsbewegung Mustafa Kemals (Atatürks) kämpften und damit dem Zugriff des Sultans oder der Besatzer entzogen waren.

Dies ist nach Auffassung Taners auch ein Grund, warum die Türkische Republik bis heute hartnäckig den Völkermord an den Armeniern leugnet: Viele ihrer Gründungsväter waren an der Durchführung des Genozids beteiligt. Auch die Rolle, die die verbündeten deutschen Militärs, die während des Kriegs nicht nur als Berater, sondern teilweise auch als Truppenkommandeure des osmanischen Heeres aktiv waren, harrt noch der genauen Erforschung.

Taner Akcams glänzend recherchiertes und gut geschriebenes Buch versteht sich als Diskussionsangebot an beide Seiten: Die armenische und vor allem aber die türkische Seite sollen sich endlich von einer ideologischen Geschichtsklitterung lösen und die Dokumente zur Kenntnis nehmen. „Da wir als Täter und Opfer Parteien im selben Ereignis sind“, schreibt er in einem veröffentlichten Vortrag zu seinem Buch, „können wir nur durch eine gemeinsame Diskussion die Folgen des Völkermords überwinden.“

Taner Akcam, „Armenien und der Völkermord – Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“, Hamburger Edition, Hamburg 1996, 430 Seiten, 48 DM