Wer möchte denn schon gerne Tory sein

■ Mit Meinungsumfragen wird in Großbritannien heftig Politik gemacht

Dublin (taz) – Sie lungern vor Haustüren herum, lauern an jeder Straßenecke ahnungslosen Passanten auf, überfallen einkaufstütenbeschwerte Hausfrauen und jobgeplagte Angestellte. In keinem Winkel Großbritanniens ist man derzeit vor ihnen sicher. Man erkennt sie an ihrem falschen Lächeln und dem Fragebogen unterm Arm: die Meinungsforscher. Ihr Ruf ist miserabel. Vorgestern machte die renommierte britische Tageszeitung Guardian mit der Meldung auf, daß der Vorsprung der Labour Party vor den Tories auf fünf Prozent zusammengeschrumpft sei. Das hatte das ICM-Institut herausgefunden. Merkwürdig nur: Bei der Konkurrenz von Gallup, Harris und Mori lag Labour nach wie vor um mehr als 20 Prozent vorn, obwohl die am selben Tag wie ICM herumgefragt hatten.

„Opinion polls“ sind britischer Nationalsport, keine andere Nation Europas ist so versessen auf Meinungsumfragen. Täglich werden die neuesten Trends vermeldet, obwohl es nicht den geringsten Grund gibt, sie ernst zu nehmen. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren tippten die vier Institute im Durchschnitt um mehr als neun Prozent daneben, alle hatten bereits Neil Kinnock zum Premierminister erkoren. „Sie lagen falsch, die Konservative Partei lag richtig“, freute sich John Major. Doch bei dieser Meinung konnte der Premier ja nun wirklich nicht bleiben. Vorgestern sagte er: „Meinungsumfragen sind wertlos, wenn man voraussagen will, was die Leute am Wahltag tun werden.“

Er hat recht. Wer die Tories wählt, gibt das nicht gerne zu, das mußten die Meinungsforscher 1992 feststellen. Damals hatten sie die Kategorien „Weiß nicht“ und „Sag' ich nicht“ einfach weggelassen – in der stillen Annahme, daß die Befragten sich am Ende statistisch korrekt verhalten würden. Das taten sie aber nicht: Weit mehr Tory-WählerInnen als AnhängerInnen anderer Parteien hatten bei Umfragen die Antwort verweigert, weil sie ihre Neigung offenbar für eine Perversion hielten, über die man nicht spricht.

Einige Umfrage-Institute haben darauf reagiert und beziehen diese Erkentnis in ihre Berechnungen ein. Manche fragen die Leute persönlich, andere per Telefon. Zwei Institute achten auf einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung, die anderen beiden nehmen die Erstbesten, die ihnen über den Weg laufen. Aber nur ICM hält die meisten Befragungsopfer für Lügner: Das Institut mißt dem tatsächlichen Wahlverhalten vor vier Jahren weit mehr Bedeutung zu als die Konkurrenz. Deshalb liegt Labour bei ICM nur fünf Prozent vor den Tories. Wie auch immer die Wahl ausgehen wird – die Umfragen bringen vor allem eins ans Licht: Wie vielen der Befragten es zu peinlich war, sich als Tory zu outen. Ralf Sotscheck