Fern der Realität

■ Nirgendwo sonst ist die Lehrerbildung so theorielastig wie in Berlin. Doch es hapert an der Kunst der Wissensvermittlung

Nur 20 Prozent aller Schüler in Deutschland sind der Meinung, ihre Lehrer könnten schwierige Sachverhalte gut erklären. Nur 19 Prozent haben das Gefühl, daß sich ihre Erzieher darum kümmern, wie es ihnen geht. Und lediglich zehn Prozent bekunden, sie hätten zu ihnen großes Vertrauen. Das ergab eine Befragung des „Instituts für Schulentwicklungsforschung“ der Universität Dortmund, die vor zwei Jahren an weiterführenden Schulen bundesweit durchgeführt wurde. Ein Armutszeugnis für deutsche Lehrer und eine Schreckensnachricht für Eltern, verbringen Schüler doch immerhin rund 15.000 Stunden ihres Lebens in der Schule.

Kürzlich goß der Berliner Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth noch Öl ins Feuer mit der Behauptung, ein Drittel aller Lehrer sei unqualifiziert und müßte eigentlich entlassen werden. Er entfachte damit erneut eine Diskussion, die in schöner Regelmäßigkeit immer wieder die Gemüter erhitzt: Wie ist es um die Qualität der Ausbildung von Lehrern in Deutschland bestellt? Spätestens seitdem eine internationale Vergleichsstudie des Berliner Max- Planck-Instituts für Bildungsforschung ergab, daß bundesdeutsche Schüler in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern allenfalls im trüben Mittelfeld liegen, ist nicht mehr zu leugnen, daß hierzulande in den Klassenzimmern einiges im argen liegt.

„Bei uns werden Lehrer in ihren Fächern wissenschaftlich brillant ausgebildet“, so Bernd Wurl, Leiter des Zentralinstituts für Fachdidaktik an der Freien Universität Berlin (FU). „Doch der Aufwand steht in keinem Verhältnis zum Lernerfolg der Schüler.“ Offensichtlich fehlt es den Pädagogen nicht an Wissen, sondern eher an der Kunst der Wissensvermittlung.

In keinem anderen Land wird soviel Wert auf die akademische Ausbildung eines Lehrers in seinen Fächern gelegt, während Pädagogik und Didaktik als Randaspekte des Studiums ihr Dasein fristen. Eine wirklich intensive Berührung mit dem Schulalltag erfährt der angehende Lehrer erst nach jahrelangem Studium im Referendariat. Wer da plötzlich feststellt, er ist für den Beruf ungeeignet, tut sich mit einem Wechsel meistens schwer.

In Berlin ist das Lehramtsstudium besonders weit von der Schulrealität entfernt. In der sogenannten integrierten Lehrerbildung werden Grundschulpädagogen in ihrem Fach genauso ausgebildet wie Studienräte. An Veranstaltungen, die auf die spätere Berufstätigkeit zugeschnitten sind, mangelt es. „Wir haben beispielsweise an der FU spezielle Mathematikseminare für Physiker und für Mediziner“, so Wurl. „Für Lehrer gibt es keine.“ Und wer Französisch als Fach hat, wird sich die meiste Zeit in deutschsprachigen Seminaren zu Detailfragen der französischen Literatur aufhalten, die für Romanistikstudenten konzipiert sind. Schuld daran ist der Mißstand, daß das Lehramtsstudium an den Universitäten als eine Art Wurmfortsatz der Magister- und Diplomstudiengänge betrachtet wird und dementsprechend vernachlässigt wird.

Durch die institutionelle Trennung der theoretischen Ausbildung an der Uni und der praktischen in den Studienseminaren fehlt der Austausch zwischen beiden Ebenen. Doch der wäre dringend nötig, damit die Studieninhalte den ständig steigenden Anforderungen des Schulalltags gerecht werden können. Denn oftmals erschöpft sich die Erziehungswissenschaft in historischen Studien oder abstrakten Fragestellungen. Mit den konkreten Problemen von Jugendlichen und Kindern haben sie wenig zu tun. In Brandenburg versucht man sich immerhin aus der Misere zu helfen: Eine professionsorientierte und psychologisch qualifizierte Lehrerbildung war 1992 der Leitgedanke, der das sogenannte Potsdamer Modell aus der Taufe hob. Lobenswert: Gymnasiallehrer beispielsweise müssen hier vor Ende des Studiums sieben – größtenteils semesterbegleitende – Praktika an den Schulen oder Jugendeinrichtungen absolvieren statt wie in Berlin nur drei.

In der Hauptstadt dagegen beschränkt sich die Debatte im wesentlichen auf den Vorschlag Radunskis vom vergangenen Dezember, Lehrer wieder an die wesentlich billigeren Fachhochschulen zurückzuzitieren. Eine Reform der Studieninhalte wird nicht mal andiskutiert. Tenorth warnt vor solchen Bestrebungen: „Lehrer mit niedriggekochten Bruchstücken von Allgemeinwissen auszustatten genügt nicht zu ihrer Qualifkation.“ Vielmehr tue ein Umdenken an den Universitäten not, so auch Wurl, und zwar schnell: „Bei der gegenwärtigen Vergreisung der Berliner Lehrer ist in spätestens zehn Jahren eine riesige Pensionierungswelle zu erwarten.“ Ein Heer von mittelmäßig ausgebildeten Pädagogen wird dann in die Schulen drängen. Tanja Hamilton