Normalität unerwünscht

■ Pointiert, subjektiv, mit Musik unterlegt: „Hundert Jahre schwul“, eine Revue zum Jubiläum der deutschen Schwulenbewegung in der Bar jeder Vernunft

Am 15. Mai 1897 trafen sich in Berlin-Charlottenburg vier Männer, darunter der Sexualwissenschaftler und Arzt Magnus Hirschfeld, zur Gründung des „Wissenschaftlich Humanitären Komitees“. Programmatisch formulieren sie in ihrer ersten Erklärung ihre Hauptaufgabe, nämlich „aufgrund sichergestellter Forschungsergebnisse und der Selbsterfahrung vieler Tausender endlich Klarheit darüber zu schaffen, daß es sich bei der sogenannten Homosexualität um kein Laster und kein Verbrechen, sondern um eine von der Natur tief in einer Anzahl von Menschen wurzelnde Gefühlsrichtung“ handelt.

Dieser 15. Mai 1897 gilt heute als die Geburtsstunde der Schwulenbewegung, des modernen, um Gleichberechtigung und Akzeptanz kämpfenden Homosexuellen. In der Akademie der Künste widmet man sich ab Mai aus diesem Anlaß einer großangelegten historischen Ausstellung samt Kulturmarathon. Der Berliner Journalist Elmar Kraushaar ist die Sache subjektiver und in seinen gewählten Ausschnitten pointierter angegangen. „Eine Revue“ nennt er den von ihm herausgegebenen Band „Hundert Jahre schwul“ im Untertitel. 16 Beiträge Berliner Autoren (und einer Autorin) zum Leben und Lieben von Schwulen in Deutschland, zur Geschichte, Kultur und zum Alltag – eine ziemlich gelungene, weil abwechslungsreiche, spannende wie auch recht unterhaltsame Sache.

Hart geht Kraushaar zum Auftakt in seinem Beitrag „Ende der Gewißheit“ zur Sache. Dem durch den Bündnis 90/Die Grünen-Abgeordneten Volker Beck leidlich medienpräsenten Sprecher des „Schwulenverbandes in Deutschland“ hält Kraushaar vor, einerseits mit der Wirklichkeit widersprechenden Fakten die historische Opferrolle des Homosexuellen künstlich aufrechterhalten zu wollen, andererseits aber ein Bild des überangepaßten, heiratswilligen und zudem „konsumfreudigen Avantgarde-Homo“ zu promoten.

Für Kraushaar ist die derzeitige Entwicklung nichts weiter als ein „letztes Gefecht“: „Schwule kämpfen um die Reste einer überholten Identität und geben sich gleichzeitig der Normalität preis.“ In dem von Kraushaar herausgegebenen Jubiläumsband erinnert sich der 1901 geborene Berliner Schauspieler Kurt von Ruffin an die Zeiten, als Homosexuelle noch massiver Bedrohung ausgesetzt waren. Er berichtet in einem eindringlich berührenden Interview von seiner Inhaftierung 1934/35 im KZ. Der Musikkritiker Bernd Feuchtner erzählt, in welcher Wechselwirkung sein Coming-out und die ersten Hörerfahrungen mit Tschaikowsky standen.

Das Bild des Schwulen im Kino resümiert Reiner Veit, Jürgen Neumann beschreibt die Situation Aidserkrankter und HIV-Positiver im Zeitalter der Hoffnung auf ein länger währendes Leben mit dem Virus dank neuer Medikation. Albert Eckert, 1990 dank Verleumdungskamapgne der CDU wohl der Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses mit der kürzesten Amtsdauer, blickt selbstkritisch, aber ohne Reue und Trauer auf seine sieben Amtsjahre als offen schwuler Abgeordneter zurück. Gewohnt ironisch-bissig fiel der Beitrag Detlev Meyers aus. In seinem Pamphlet gegen den Götzendienst seziert er der Schwulen Hang zu weiblichen Diven („Aus kleinen Verhältnissen kommend, streben sie in die große Welt und landen doch nur bei den ramponierten Altmeisterinnen der Kleinkunst“).

Besonders schön, weil er so unaufdringlich und dabei selbstkritisch wie ungeschönt sein Verhältnis zum SED-Staat aufarbeitet, ist die Brieferzählung des (Ost-)Berliner Schriftstellers Michael Sollorz, der nicht nur dieses bemerkenswerten Textes wegen viel mehr Aufmerksamkeit verdiente. Axel Schock

Elmar Kraushaar (Hg.): „Hundert Jahre schwul. Eine Revue“. Rowohlt Berlin Verlag, 240 S., 34 DM. Buchpremiere am 28. April, 20.30 Uhr, in der Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24, u.a. mit Gayle Tufts & Rainer Bielfeldt, es lesen Michael Sollorz und Renée Zucker.