Immer Ärger mit Anton

■ Howard Barker hat Tschechows gutem Onkel Wanja eine böse neue Identität verpaßt: Die Londoner Wrestling Company mit "(Uncle) Vanya" im Hebbel-Theater

Onkel Wanja ist ein liebenswerter, schwacher Mann – jemand, der sich sein Leben lang ausbeuten läßt und garantiert danebenschießt, wenn er sich einmal doch gegen seinen Peiniger auflehnt. Onkel Wanja ist fleißig, gutmütig, allgemein beliebt und zutiefst verbittert. Und sein Schöpfer Tschechow läßt ihm keine Hoffnung, daß sich das je ändern wird.

Jetzt aber hat der hilflose Onkel einen Ritter gefunden. „Durchaus bösartig infiltriert Tschechow sein Publikum mit der Anbetung des gebrochenen Willens“, klagt der englische Dramatiker Howard Barker. Und verpaßt Wanja flugs eine neue Identität. Barkers „(Uncle) Vanya“ heißt Iwan und strotzt vor Willenskraft. Er schießt nicht fehl, im Gegenteil: Er verballert das ganze Magazin direkt ins Gesicht des Feindes. Und verändert damit auch das Leben der anderen Figuren: der schönen, nun verwitweten Jelena, der altjüngferlichen Sonja, des gelangweilten Landarztes Astrow.

Das Gutshaus: zwei Wände aus rostigem Stahl, vier Stockwerke hoch. Zu einer betäubend einförmigen Musik aus immer denselben dissonanten Synkopen schleichen Menschen an der Wand hin und her, als wären sie Figuren einer Spieluhr. Die alte Dienerin trägt ein Handtuch, Sonja ein Tablett mit metallenem Haushaltsgerät. Bis die Musik einen Augenblick verstummt und das Tablett krachend über das Geländer fällt. Dieser Ablauf wiederholt sich mehrmals – ein starkes Bild für das Gefangensein in der Monotonie und die Vergeblichkeit von Ausbruchsversuchen. Erst Wanjas Auftritt unterbricht den Kreislauf. Alle Schauspieler versammeln sich und bilden eine „bedeutende Gruppe“. Die folgenden zweieinviertel Stunden sind sehr, sehr lang.

Howard Barker ist ein Dichter der großen Themen. Seine Stücke kreisen um Liebe und Tod, Sex und Gewalt, seine Figuren ringen mit der Welt und suchen Wahrheit. Vor zwei Jahren wurden Barkers „Hated Nightfall“ und „The Castle“ im Hebbel-Theater aufgeführt. Die rätselhaften, sprachmächtigen Texte über den Untergang der Zarenfamilie und einen archaisch entrückten Geschlechterkampf zogen unwiderstehlich in ihren Bann, die suggestiven Bilder der Aufführungen brannten sich ins Hirn. Wie anders dagegen „(Uncle) Vanya“! Dabei spielt wieder die Londoner Wrestling Company, die sich ausschließlich Barkers Stücken verschrieben hat, und wieder führt der Autor selbst Regie. Es muß am Stück liegen.

Barker hat immer wieder betont, daß er an Psychologie nicht interessiert sei. Trotzdem tun die Figuren seiner Tschechow-Paraphrase bei aller hektischen Aktivität kaum etwas anderes, als sich selbst dem Publikum zu erklären. Vor dem befreienden Mord reden Wanja (Gerrard McArthur), seine Verwandten und Astrow aneinander vorbei, danach miteinander – immer aber sind sie auf ermüdende, unerträgliche Weise geschwätzig. Eine verfettete Bildersprache rollt jeden Rest von Geheimnis nieder wie eine Walze. Iwans Tat weckt Jelenas hemmungsloses Begehren – in der Wand entsteht eine phallusförmige Öffnung. Wenn die Figuren, eine nach der anderen, ihre gewohnten Zwänge abgestreift haben, weitet sich ein großes Tor nach draußen. Dort schimmert es blau: Das Meer, Symbol der Freiheit, ist zum Gutshaus gekommen.

Und nun muß auch noch Tschechow (Steve Swinscoe) auftreten und eine Debatte mit seinen Kreaturen anfangen. Das hat Pirandello in „Sechs Personen suchen einen Autor“ vor fünfundsiebzig Jahren erheblich besser gemacht, und so sind die Reihen der Zuschauer nach der Pause stark gelichtet. Wer durchhält, keucht unter tonnenschwerer Symbolik: Der Dichter akzeptiert die Freiheit der Figur und verscheidet, mit seiner Phantasie vertrocknet das Meer, Onkel Wanja vergißt die Seriennummer seines Revolvers, und alles wird wie zuvor. Einziger Lichtblick ist ein seltsam schöner Monolog Jelenas vor dem Spiegel, der die Waffen einer Frau buchstäblich nimmt: „Aus Rippen wurden früher Nadeln gemacht...“ Hier schimmert Barkers große Kunst auf. Nur paßt der Monolog so gar nicht zum übrigen, daß sich der Verdacht aufdrängt, er sei aus der Schublade genommen worden, um „(Uncle) Vanya“ aufzupeppen. Doch da war nichts mehr zu retten. Miriam Hoffmeyer

In englischer Sprache mit schlampiger deutscher Übertitelung. Heute und morgen, jeweils 20 Uhr, Stresemannstr. 29