Heiliger Ort der Wahrheit

■ Do Re Mi Fa So Latitod – Premiere von Urs Dietrich

Berührung, Begegnung, Trennung ist das einfache Thema in „Do Re Mi Fa So Latitod“. Den besonderen Raum des Concordia teilt die Choreographie von Urs Dietrich neu auf: Indem die ZuschauerInnen auf vier Reihen längs sitzen, wird die Nähe zum Publikum noch stärker. Die zwei Türen, die rechts und links den schlauchartigen Raum begrenzen, haben choreographische Funktion. Sie werden leise geöffnet, geknallt, wedeln hin und her, lassen Licht herein, sperren Menschen aus. Sonst liegen in dem schmucklosen Raum von Barbara Klugel Eisenplatten, die entweder Türen oder Särge sein könnten, die einmal einen Bahnhofsvorraum, einmal eine Kirche, einmal eine Industriehalle suggerieren.

In ihnen entfacht Dietrich das Feuerwerk der Gefühle seiner Menschen: Im Zentrum stehen vier Paare, die die Tragik und die Komik ihrer Beziehung tanzen: Der traditionelle Pas de deux wird nicht verschwiegen, aber wie wird er umgesetzt! Jede seelische Regung scheint auf der Stelle einen Bewegungswechsel, einen völlig anderen Ausdruckscharakter zu provozieren. Nicht einfach Körpersprache sieht man bei Urs Dietrich, sondern im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache des Körpers.

Voller Zauber und anmutiger Sehnsucht die einen, voller Witz und Selbstironie die anderen, voller Verzweiflung und Vergeblichkeit die diese, voller Sprachlosigkeit und gegenseitigem Unverständnis die jene. Dazwischen entfaltet die virtuose Truppe so ziemlich alles, was möglich ist, auch solistische Nummern. Der eine kann sich nicht bewegen, ohne daß er seine Glieder packt und vorwärts transportiert, eine andere bewegt sich vollkommen anders, wenn sie beobachtet wird.

Seit Susanne Linke und Urs Dietrich 1994 gemeinsam die Leitung des Bremer Tanztheaters übernommen haben, trugen beide auf ganz unterschiedliche Weise zum Wachsen des Renommees des Bremer Theaters bei: die Chance, daß Bremen nach Reinhild Hofmann, Gerhard Bohner und Hans Kresnik in einem neuen Anlauf wieder zu einem Zentrum des Tanztheaters werden kann, haben sie genutzt. Nun gab es im Concordia die erste abendfüllende Choreographie von Urs Dietrich, in der er selber diesmal nicht mittanzt.

Seine Ansprüche an Tanztheater sind so groß, daß man skeptisch ist, ob er sie immer wieder erfüllen kann, zumal Dietrich selbst ja auch Zweifel formuliert: „Habe ich überhaupt etwas zu sagen?“Dagegen steht: „Die Bühne ist ein heiliger Ort, aber auch brutal wie das jüngste Gericht. Die Wahrheit muß ans Licht.“Dies könnte allzu pathoslastig und damit schwer erträglich sein, wäre da nicht Urs Dietrichs Humor und seine gestalterische Fähigkeit, solche Ambivalenzen auch umzusetzen.

Es gibt keinen Stil seiner Choreographie, sondern diese ist das Ergebnis der Individualitäten der Truppe. Da die Palette zwischen Witz und Dramatik, zwischen Karrikatur und Einfühlung, zwischen schreiender Aggression und feiner Zurückhaltung endlos ist, kann er sich ein so simples Thema wie dieses abendfüllend erlauben: Noch immer ist der Mensch selbst das spannendste.

Wichtig wird allerdings der sparsame Einsatz der Musik: Aus den hauptsächlich langsamen Sätzen der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven nutzt Dietrich deren häufig doppelte Aura: Passion und Sehnsucht, Verzweiflung und Trost. Zum Höhepunkt des Abends wird die raketenartig aufschießende Musik des Prestos aus der sogenannten Mondscheinsonate: Hier prallen ohne Ende die Menschen noch einmal sozusagen im Zeitraffer aufeinander, immer und immer wieder. Das Tempo, in dem in diesem furiosen Finale Witz und Tragik wechseln, wurde eine der nachhaltigsten Eindrücke des mit herzlichem Beifall quittierten Abends.

Ute Schalz-Laurenze

Concordia: 30.4., 2.5., 3.5., 7.5. und 11.5. jeweils 20 Uhr