Der Schnüffler

Gesichter der Großstadt: Der Juraprofessor Bernhard Schlink sucht den politischen und wissenschaftlichen Strukturen durch die Dichtung zu entkommen  ■ Von Isabel Fannrich

Wer einmal im Elfenbeinturm sitzt, kann von Flucht nur noch träumen. Bernhard Schlink, an der Humboldt-Universität Professor für Öffentliches Recht, würde am liebsten „alles hinschmeißen“. Nicht, um in der Provence Schafe zu züchten, sondern um sich endgültig seiner Leidenschaft zu verschreiben: dem Dichten.

Eigentlich scheint seine Professoren- und Richtertätigkeit dem nicht im Wege zu stehen. In den letzten Jahren hat der 53jährige mehrere aufsehenerregende Bücher geschrieben. Für seinen Kriminalroman „Die gordische Schleife“ erhielt er den „Glauser“ der Vereinigung deutscher Kriminalschriftsteller, „Selbs Betrug“ wurde mit dem Deutschen Krimi- Preis 1993 ausgezeichnet.

Im Gegensatz zum strukturierten wissenschaftlichen Schreiben fasziniert Schlink der offene Prozeß der Dichtung. Dennoch hat Schlinks Literatur keinen experimentellen Charakter. In knapper, eindringlicher Sprache läßt er seine Charaktere auf den Spuren deutscher Geschichte und Gegenwart wandeln. Seine Hauptfigur, der alternde Privatdetektiv Selb, schnüffelt zunächst in den Überbleibseln nationalsozialistischer Vergangenheit und in den Nachwehen der Terroristenszene der späteren Bundesrepublik herum.

Das Thema Vergangenheit kehrt immer wieder, unregelmäßig und unberechenbar. Dies ist Schlinks Credo, das in seinen Büchern eine zentrale Rolle spielt. Im „Vorleser“, seinem letzten Roman, entpuppt sich eine zunächst harmlose, wenn auch sonderbare Liebe zu einer älteren Frau als lebenslanges Dilemma: Nur zufällig erfährt der Held von ihrer Tätigkeit im Dritten Reich und schlägt sich mit der Frage herum, ob er sich selbst oder erst an ihr schuldig gemacht habe. Nicht nur die Wunden des Nationalsozialismus, sondern auch die der DDR müssen verheilen, meint Schlink.

Als der in Bonn lehrende Professor 1990 Gastvorlesungen an der Humboldt-Universität hielt und zwei Jahre später endgültig nach Berlin wechselte, wollte er nicht über das DDR-System richten: „Der Osten bot die Chance und Herausforderung, Neues auszuprobieren und etwas anders zu machen.“ Um die DDR noch eine Weile als Zwischenlösung zu erhalten, arbeitete Schlink im Winter 1990 am Verfassungsentwurf des Runden Tisches mit.

Das Experimentierfeld DDR enttäuschte Schlink jedoch zutiefst, hatte er doch Christa Wolf gebeten, die Präambel zum Verfassungsentwurf zu schreiben. „Wolf erwies sich als Kind des vormundschaftlichen Staates: Es ging ihr nicht primär um dichterische Qualität, sondern sie versuchte, es allen recht zu machen. Sie integrierte humanistisches Erbe, feministische Verheißung, sozialistisches Dies, Bürgerliches Das.“ Schlink hatte auf Anregungen gehofft, traf aber auf „Enge, Dürftigkeit und Unselbständigkeit“.

Obwohl sich „alles zu schnell normalisiert“ hat, ist der gebürtige Heidelberger in Berlin geblieben. Seine Erfahrungen mit dem Aufeinanderprallen von Ost und West verarbeitet er zur Zeit in „Selb“ Nummer drei, mit dem er die Trilogie beenden will. Selb treibt sich nicht, wie ursprünglich geplant, in der Zeit vor dem Mauerfall, sondern in der Gegenwart herum.

Die aktuellen „staatlichen Vergangenheitsbewältigungs-Veranstaltungen“ hält Schlink für unnötig. Die alte Bundesrepublik betreibe im Osten zwar keine Kolonialisierung, versuche aber, eine „Summe“ der DDR-Geschichte zu ziehen. „Man will es besser machen als 1945 und hat Angst, daß sich niemand für die Vergangenheit interessiert. Warum läßt man es dann nicht bleiben?“ Schlink ist gegen die Strafprozesse, gegen das „Gauck-positiv-oder-negativ- Schema“, gegen undifferenzierte Kündigungen.

Dennoch ist er kein Radikaler. Er hat nur nie dem Mainstream angehört. „Als Linksliberaler war ich in der 68er Zeit eher rechts und gehörte nicht richtig dazu. Als dann das politische Klima rechts an mir vorbeiwanderte, war es vielleicht ein Zeichen meiner Wandlungsunfähigkeit, linksliberal zu bleiben.“ Als solcher habilitierte er sich in den siebziger Jahren, als das Datenschutzproblem aktuell wurde, beim Verfassungsrichter Böckenförde zum Thema Gewaltenteilung in der Verwaltung. Von Freiburg ging er nach Frankfurt, Bielefeld, Darmstadt und Bonn. Neben seiner universitären Karriere übernahm er Fälle an Bundes- und Landesverfassungsgerichten.

Mittlerweile hat Schlink seinen Glauben an die Wissenschaft verloren: „Ich dachte, wenn ich ein aktuelles Thema gründlich aufarbeite, müßte sich etwas bewegen.“ Doch seine Argumente konnten weder den Radikalenerlaß verhindern noch die Formulierung des Paragraphen 218 beeinflussen. „Die SPD-regierten Länder hatten die besseren Argumente, aber mit denen setzte man sich vor dem Bundesverfassungsgericht nicht auseinander.“ Interne Strukturen und Entscheidungsprozesse hätten die inhaltliche Ebene überlagert.

Ist Schlinks Traum, ein hundertprozentiger Schriftsteller zu werden, ein Rückzug aus den zähen wissenschaftlichen und politischen Strukturen? Dieser Schritt ist ihm nicht geheuer, da sind noch zu viele Wenn und Aber. Noch macht ihm die Bestätigung durch Tätigkeiten, die er beherrscht, zuviel Spaß. Zwar schiebt er seine wissenschaftlichen Arbeiten inzwischen schon mal auf, ist aber noch viel zu tief verstrickt in die Ausbildungskommission, in die Erhaltung der Bibliothek, in die Theatergruppe, mit der er „lebendige“ Aufarbeitung von Geschichte macht.