■ Kommentar
: Differenzierung statt Dramatisierung

Methoden zur Beschreibung von Gruppenprozessen finden sich in der Sozialwissenschaft in vielfältiger Weise. Nicht alle Ausarbeitungen sind so erfolgreich wie die Heitmeyer-Studie. Die Wellen wogen: Das Thema „Ethnizität“ geht in eine neue Runde. Die Fronten erscheinen verhärtet. In Schlagzeilen fungieren erneut „Kopftuch“, „türkische Flagge“ und „Messer“ als Schreckensbilder drohender Gewalt türkischer Jugendlicher. Viele von ihnen seien antidemokratisch, religiös-traditionell, islamisch-fundamentalistisch oder sogar gewalttätig und kriminell. Auch seinen türkische Migranten der dritten Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, in die deutsche Gesellschaft nicht integrierbar. Auch jüngste Ergebnisse der Wissenschaft scheinen diese bedrohliche Entwicklung zu bestätigen und liefern willkommene Beweise für eine neu entfachte Aktualität. So gelangt Heitmeyer in seiner Studie zu den „politischen und religiösen Orientierungen von Jugendlichen türkischer Herkunft“ zu der Erkenntnis, die zweite und dritte Generation türkischer Migranten identifziere sich in zunehmendem Maße mit dem Islam. Aus dem „Anspruch der Überlegenheit des Islam“ vermeint er unmittelbar „fundamentalistische Tendenzen“ und aus diesen eine „latente Gewaltbereitschaft“ ableiten zu können. Dies lasse sich aus dem umfangreichen Datenmaterial seiner repräsentativen Befragung ableiten.

In einer empirischen sozialpsychologischen Studie, die ich im Jahre 1996 in Hamburg über die soziale Identität türkischer Migranten der zweiten Generation durchführte (veröffentlicht demnächst), konnte ich zu Ergebnissen gelangen, die denen Heitmeyers diametral entgegenstehen. In dieser Untersuchung sollte das Gefühl von Gruppenzugehörigkeit der Migranten ermittelt werden. Rund 300 Jugendliche im Alter von 18 bis 30 Jahren, beiderlei Geschlechts, mit unterschiedlichem schulischen oder beruflichen Status, konnten dabei erfaßt werden. Ein Großteil der Befragten bekennt sich in allen Merkmalen sowohl zu einer türkischen als auch zu einer deutschen Identität. Sie fühlen sich als Teil dieser Gesellschaft.

Dabei wurden soziale Probleme keineswegs unter den Tisch gekehrt. Diese lassen sich hingegen ausschließlich aus dem gesellschaftlichen Gesamtgefüge heraus darstellen und betreffen sowohl die türkisch- als auch die deutschstämmige Bevölkerung. Insbesondere Wissenschaftler sollten in der Lage sein, in ihrer Forschungsarbeit die eigene ethnische Zugehörigkeit zu reflektieren. Dazu bedarf es ein Bemühen um Sprache, die keiner Ideologie noch dem Interesse einer Gruppe verpflichtet ist. Fraglich in Heitmeyers Untersuchungsdesign erscheinen die Begriffe „Islam“, „Fundamentalismus“, „religiös“ oder „autoritär-patriarchalisch“, die ihm als Grundlage zur Konstruktion seiner Befragung gereichen – und gleichzeitig als ihr Ergebnis. Solche Begrifflichkeiten sind für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit äußerster Vorsicht zu genießen. Worte haben ihre Geschichte, entstehen zu bestimmten Zeiten und beschreiben die Intentionen dessen, der sie gebraucht. Ülger Polat