Ein Rülpser auf Schottland

In Glasgow kämpft Labour gegen die Schottische Nationale Partei um die Wählerstimmen. Auf letztere bauen die Schotten – für die Unabhängigkeit  ■ Aus Glasgow Ralf Sotscheck

Im Treppenhaus stinkt es nach Pisse. Die Stufen, die zu den Gleisen hochführen, wölben sich nach unten, an den Wänden ist die Farbe abgeblättert. Der Rest des Bahnhofsgebäudes von Pollokshaws West ist zugemauert. Die Tür zum Wartesaal ist mit einer Spanplatte verbarrikadiert. Darauf steht in ungelenken Buchstaben: „FC Celtic“. Jemand hat mit schwarzem Filzschreiber ein Hakenkreuz hinzugefügt, daneben „FC Hitlerjugend“. Wenn es regnet, kann man sich am Rand des Bahnsteigs unter ein kleines Plexiglasdach stellen, das von orangenen Stahlträgern gehalten wird.

Pollokshaws liegt im Süden Glasgows, der größten Stadt Schottlands. Vom Hauptbahnhof dauert es mit dem Zug nur zehn Minuten. Östlich vom Bahnhof, in der Shawbridge Street, liegen die Sozialbauwohnungen: zehn Hochhäuser mit je fünfzehn Stockwerken, dazwischen zweistöckige Wohnhäuser, zwei Kirchen, eine Kneipe und eine Ladenzeile.

„Das wäre ein Ding“, sagt Tom Farquharson und zieht die Scotland On Sunday aus dem Regal in dem kleinen Zeitungsladen. „Die Männer von gestern“ steht in dicken Lettern auf Seite 1, darunter Fotos von Außenminister Malcolm Rifkind, Schottland-Minister Michael Forsyth und Handelsminister Ian Lang. „Alle drei sind Schotten“, sagt Farquharson. „Nach neuesten Meinungsumfragen liegen sie deutlich hinter ihren Labour-Konkurrenten zurück und gucken wahrscheinlich in die Röhre, wenn am Donnerstag gewählt wird.“ Farquharson legt die Zeitung zurück, nimmt lieber eine Sportzeitung und gibt dem indischen Zeitungshändler 50 Pence. Dann fällt ihm ein: „Wenn die ihre Sitze verlieren, kann keiner von ihnen Parteichef werden, wenn die Tories John Major in die Wüste schicken.“

Daß die Tories die Wahl am 1. Mai verlieren und den Noch- Premierminister auch von der Parteispitze vertreiben werden, ist für Farquharson ausgemachte Sache. Der 31jährige arbeitet als Fahrer bei einem Molkereibetrieb, er lebt seit vier Jahren mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Pollokshaws. „In Schottland sind die Tories nie gewählt worden“, sagt Farquharson, „deshalb haben sie unsere Industrie zerstört und uns statt dessen Dienstleistungsjobs, Fließbandarbeit und Teilzeitbeschäftigung zu Dumpinglöhnen gegeben.“ Schottland gehöre zu den reichsten Ländern Europas, sagt seine Frau Lucy: „Tourismus, Whisky, Erdöl – das Geld wird benutzt, um Haushaltslöcher in London zu stopfen. Deshalb wollen die Tories uns kein bißchen Unabhängigkeit zugestehen, weil sie Angst haben, daß ihre Geldquelle dann versiegt. Man braucht sich ja nur hier umzusehen: Freizeiteinrichtungen? Pustekuchen. Selbst ein neues Taschenbuch in der Bücherei ist Luxus.“

Lucy Farquharson arbeitet halbtags in der Leihbücherei am Ende der Shawbridge Street, einer Konstruktion aus Glas und blauem Stahl. Durch die großen Fenster sieht man die langen Holzregale mit gelben Themenschildern an der Seite: „Crime“ steht auf den ersten drei Reihen. Die Kriminalität scheint eine große Rolle zu spielen in dieser Gegend. Auf dem Verschlag für die Mülltonnen gegenüber der Bücherei ist eine Reihe scharfer Metallkreuze angebracht, damit niemand auf die darüberliegenden Balkone klettern kann. Selbst das Dach des Kindergartens ist mit Stacheldraht gesichert, und überall sind auf hohen Holzmasten Kameras montiert.

Selbst die Eingänge zu den Hochhäusern werden mit Kameras überwacht. Die Häuser stammen aus den sechziger Jahren, nur die roten Eingangstüren mit den Sprechanlagen sind neu. Die Gebäude haben wohlklingende Namen wie „Woodrow“, „Tassie“, „Greenbank“, rund 1.500 Menschen wohnen hier. Am Haus „Shawholm“ hängt ein Hinweisschild auf eine „Concierge Station“. Ein Pfeil zeigt zur Rückseite des Hauses. Hinter einer Glastür liegt ein kleiner Raum mit einem Fenster zum Concierge-Büro.

Paul Carberry sitzt vor neun Bildschirmen und einem Computer. Auf dem Computer sieht man eine Karte der Straße, darauf eingezeichnet sind die Positionen der vierzig Überwachungskameras. „Wenn ich eine der Kameras anklicke, erscheint das Bild auf dem Schirm“, sagt Carberry. „Ich kann die Kameras um 320 Grad drehen, ich kann mit dem Objektiv näher heranfahren, selbst in den Fahrstühlen der Hochhäuser kann ich jeden Winkel sehen.“ Klick – aus dem Polizeirevier gegenüber kommt eine Beamtin. Klick – neben der Holzbaracke des Mietervereins schaukeln zwei Mädchen in einem Autoreifen, den sie an einen Ast gebunden haben. Klick – in den Kreisverkehr am Ende der Straße fährt ein Viehtransporter ein. Klick – das Concierge-Büro im Haus Shawholm. „Wenn ich jetzt aus dem Fenster winke, kann ich mich auf dem Bildschirm sehen“, sagt Carberry. Nur auf den Fluren in den Häusern sind Kameras tabu. „Wegen der Privatsphäre“, bedauert Carberry.

Er ist Anfang 40, hat kurze Haare und einen dünnen Bart und trägt einen grünen Pullover, in den „City Housing Glasgow“ eingewoben ist. „Das ist die erste Stadtrandsiedlung Glasgows, in der das Concierge-System im vorigen Herbst eingeführt worden ist“, sagt er. „Gleichzeitig hat die Stadtverwaltung eine Verordnung erlassen, wonach niemand herumlungern oder Alkohol trinken darf. Seitdem ist die Verbrechensrate um 80 Prozent zurückgegangen. Wir arbeiten in drei Schichten rund um die Uhr, die Videobänder zeichnen alles auf, und wenn etwas passiert, geben wir die Bänder der Polizei.“ Das Polizeirevier, ein moderner Flachbau mit Glaskuppel, liegt genau gegenüber.

„Es ist ein perfektes Überwachungssystem“, sagt Carberrys Kollege John Watt. „Aber wer dabei an den Großen Bruder denkt, liegt falsch. Wir sind Kontaktbeamte, Klempner, Sozialarbeiter, Erste-Hilfe-Experten – also Mädchen für alles. Und für die Bewohner hat es ja große Vorteile. Der Vandalismus hat früher Unsummen gekostet, von der Drogensucht und der Beschaffungskriminalität ganz zu schweigen. Wer jetzt in ein Haus hinein will, muß uns sagen, wer er ist und zu wem er will. Für Drogendealer ist das zu gefährlich.“

Die Kameras sollen jetzt auch in anderen Stadtrandsiedlungen aufgestellt werden, doch billig ist das nicht. „Wenn Labour die Wahlen gewinnt“, sagt Carberry, „dann gibt es auch Geld dafür, denn dann bekommen wir unser eigenes Parlament. Zwar soll es keine große Macht haben, wenn es nach Labour geht, aber warten wir es ab: In vier Jahren fährt die Schottische Nationale Partei mit Labour Schlitten. Alleine kann die SNP das Parlament nicht erkämpfen, aber ist es erst mal da, dann wird die SNP Schritt für Schritt ihr Programm durchdrücken – bis zur Unabhängigkeit.“

Aber noch ist es nicht soweit. Die SNP-Kandidatin für den Wahlkreis Glasgow-Govan, zu dem Pollokshaws gehört, heißt Nicola Sturgeon. Sie ist 26, seit zehn Jahren ist sie SNP-Mitglied und inzwischen Sprecherin für Energiepolitik. Bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren war sie die jüngste Kandidatin, im Wahlkreis Glasgow-Shettleston kam sie hinter Labour auf den zweiten Platz. Auch in Govan lag die SNP 1992 mit knapp 28 Prozent deutlich hinter der Labour Party, die auf 43 Prozent kam. Also eine klare Sache?

Nicht ganz, meint Jim Cassidy, ein pensionierter Bergarbeiter, dem man seine 70 Jahre nicht ansieht. Er wohnt mit seiner Frau im zwölften Stock des Shawholm- Turms. „Der Labour-Kandidat ist Mohammed Sarwar, ein Multimillionär, dem eine Ladenkette gehört. Es war ziemlich komisch, als er vorige Woche wie ein Staubsaugervertreter von Tür zu Tür ging, um seine Wahlpropaganda loszuwerden.“ Sarwar wäre der erste muslimische Unterhaus-Abgeordnete Großbritanniens, aber wegen eines parteiinternen Streits hat es viel böses Blut gegeben. Sarwar, ein schlanker Mann mit schütterem Haar und schmalem Schnurrbart, glaubt, das habe ihm letztendlich genützt: Immerhin würden ihn die Leute jetzt sofort erkennen.

Cassidy ist nicht sicher. „Die Schotten reagieren sehr sensibel auf Rassismus“, sagt er und fügt nach einer Pause hinzu: „wenn es um englischen Rassismus gegenüber Schotten geht. Der eigene Rassismus ist eine ganz andere Sache. Und die SNP hat den Sitz schon dreimal in den vergangenen dreißig Jahren gewonnen.“ – „Aber immer in Nachwahlen, wenn der Labour-Abgeordnete gestorben war“, wendet seine Frau Pamela ein. Sie ist auch schon fast 70, ihre graue Dauerwelle hat den bei dieser Generation so beliebten bläulichen Schimmer. „Das war jedesmal ein Protest-Votum gegen die Labour-Politik im Stadtrat, wenn mal wieder die Ausgaben gekürzt werden mußten. Aber die zehn Wahlkreise in Glasgow werden auch diesmal wieder an zehn Labour-Abgeordnete gehen.“

Selbst Sarwars Wahlkampfstrategen räumen ein, daß seine Chancen fifty-fifty stehen, denn gerade in den Sozialbausiedlungen mit hoher Arbeitslosigkeit ist den Menschen ein Multimillionär suspekt. In Pollok, dem heruntergekommenen Nachbarbezirk von Pollokshaws, hat deshalb Tommy Sheridan viele Anhänger. Er kandidiert für Militant Labour, den ehemaligen trotzkistischen Labour-Flügel, der unter Neil Kinnock aus der Labour Party hinausgeworfen wurde. Sheridan organisierte die Kampagne gegen Margaret Thatchers Kopfsteuer – dafür mußte er eine Weile ins Gefängnis.

Mohan Badar, der pakistanische Nachbar der Cassidys, will für Sheridan stimmen. „Ich bin seit 24 Jahren in Glasgow“, sagt er, „ich bin längst Schotte. Aber Nationalismus ist mir in jeder Form zuwider, weil er meist mit einer Ausgrenzung von Minderheiten einhergeht. Die SNP ist die einzige, die für die vollständige Unabhängigkeit eintritt. Doch was dann? Schottland den Schotten? Und was ist mit den Minderheiten?“

Von den Tories spricht niemand. „Ich weiß gar nicht, ob die in Glasgow überhaupt einen Kandidaten aufgestellt haben“, sagt Pamela Cassidy. „Es wäre reine Zeitverschwendung.“ Dann holt sie ihren blauen Mantel und die Lederjacke ihres Mannes: Zeit für einen Frühschoppen. Sie müssen eine Treppe zu Fuß gehen, denn der Fahrstuhl hält nur in den ungeraden Stockwerken. Der Pub, „The Old Geggie“, liegt keine 40 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Es ist einer dieser fensterlosen Schnellkonstrukte aus braunem Stein. Die Kneipe ist erstaunlich geräumig, es gibt einen Billardtisch und eine Dart-Ecke, in der Mitte des Raums ist Platz zum Tanzen, wenn am Wochenende eine Band spielt.

Die Cassidys setzen sich unter den Fernseher. Er trinkt ein kleines Bier und einen Whisky, sie hat ein großes Helles bestellt. Plötzlich entfährt ihr ein mächtiger Rülpser. „Sorry“, kichert sie. „Aber das war ich gar nicht. Es kam von draußen herein. Das war der letzte Rülpser der Tories in Schottland.“