■ Mitte der 70er Jahre begann das Ende der kurzen sozialliberalen Ära und der Siegeszug des Neoliberalismus. Heute steht eine Linkswende an. Nicht nur wegen Tony Blair
: Die Zeit ist reif

„Tendenzwende“ – mit Fragezeichen versehen –, so heißt ein schmales Bändchen, das 1974 im Klett-Verlag erschienen ist und das auf einer gleichnamigen Tagung der Bayerischen Akademie der Schönen Künste basierte. Mit dieser wollten konservative Intellektuelle einem Trend das Stichwort geben – weg vom Reformoptimismus und dem kritischen Gestus der Nach-68er, weg vom Geist der Dutschke und Brandt, hin zu einem gesellschaftlichen Klima, das junge Menschen wieder befähige, „die Werte und Institutionen ihrer Gesellschaft anzuerkennen“.

Was danach kam, ist bekannt: Willy Brandt stürzte, die Bundesbank machte dem Reformkeynesianismus den Garaus, Helmut Schmidt räumte den revolutionären Schutt weg, und im heißen Herbst 1977 geriet jeder unter inquisitorischen Verdacht, der die Werte und Institutionen dieser Gesellschaft nicht „anzuerkennen“ bereit war. Das – „dicke“ – Ende kam 1982 und sitzt heute noch im Kanzleramt.

Den Intellektuellen – der konservative Hermann Lübbe, der liberale Ralf Dahrendorf und andere – bescherte das von ihnen gebrauchte Wort „Tendenzwende“ also einen Erfolg, der geistigen Unternehmungen nur selten beschieden ist. Nicht daß sie die Urheber dieser Wende gewesen wären, aber sie brachten doch eine Vorahnung zum Ausdruck. Sie gaben der Zeit ein Stichwort – und waren selbst wieder Motoren des konstatierten Prozesses. Um so erstaunlicher ist retrospektiv, wie zaghaft ihre Mitschrift des Trendwechsels ausfällt. „Von Tendenzwende spricht vorzugsweise derjenige, der sie erhofft, oder ihr, indem er sie konstatiert, zustimmt“, trug Lübbe vor. Die Herren waren ihrer Sache also so sicher nicht, zweifelten, ob die Indizien einer Wende, die sie ausmachten, nicht einfach ihrer selektiven Wahrnehmung entsprangen.

Von „Tendenzwende“, vom „Paradigmenwechsel“ spricht auch heute wieder vorzugsweise, wer auf eine solche Korrektur hofft, ihr zustimmt und dieser auch einen Anstoß verleihen will. Gibt es also, ist zu fragen, hinreichende Indizien für eine Trendwende weg vom Neoliberalismus, vom Marktradikalismus, vom Ökonomismus des beschleunigten Kapitalismus?

Werfen wir einen Blick auf die Ordnung des bundesrepublikanischen Diskurses. Es ist gerade ein, zwei Jahre her, da war das Wort vom „Standort“ in aller Munde. Jede Entscheidung, die anstand, wurde allein anhand des Effektivitätskriteriums, ob diese gut sei für die Konkurrenzfähigkeit des Landes, das sich nunmehr „Standort Deutschland“ nannte, bewertet. Der „Sozialstaat“ wurde im Lexikon des Newspeak unter „Standortnachteil“ rubriziert. Der politische Wettbewerb handelte davon, daß die einen (CDU und FDP) den anderen (SPD) vorwarfen, diese gefährdeten den Standort durch Reformverweigerung, wohingegen die anderen (SPD) den einen (CDU, FDP und Wirtschaftsbossen) vorhielten, diese betrieben Standortbeschädigung durch „Krankjammern“. Heute ist das Wort „Standort“ nahe dran, als Unwort des Jahrzehnts verächtlich gemacht, wenn nicht aus dem Fundus politischer Rhetorik vollständig getilgt zu werden. Dafür ist, sonderbarerweise, im Gegenzug wieder häufiger vom Kapitalismus die Rede. Daß sich heute wieder vom Kapitalismus schreiben läßt, wohingegen doch mindestens seit einem Jahrzehnt verschämt von „Marktwirtschaft“, „Industriegesellschaft“ oder der „westlichen Ökonomie“ gesprochen wurde, ist zuletzt sogar der FAZ aufgefallen. Und wenn dann die Gewerkschaften, wie jüngst die IG Metall, mit den Parolen der zwanziger und fünfziger Jahre aufmarschieren, um die „Macht der Banken“ anzuprangern, so schlägt ihnen nicht bloß Spott entgegen – wie dies in den vergangenen Jahren noch programmiert gewesen wäre –, vielmehr hinterläßt die durchweg positive Reaktion in der Öffentlichkeit den Eindruck, hier geschehe etwas, was von einem relevanten Teil der Gesellschaft nahezu sehnsüchtig erwartet wurde.

Ein Blick über die Landesgrenzen bestärkt diesen Eindruck: Wenn in Belgien, Frankreich und Spanien die Renault-Arbeiter die Institution „Euro-Streik“ erfinden, um die Schließung des Werkes in Vilvoorde zu verhindern, dann gilt plötzlich die dauernd beschworene Rentabilitätsmaxime nichts mehr, dann feiert man die Gewerkschafter wieder als „internationalistisch im wahrsten Sinne des Wortes“ (Libération), dann marschieren diese Proletariergestalten sogar durch den Wirtschaftsteil der Zeit als Gewährsleute eines künftigen „Europas der Bürger“. Und dann leiten selbst jene einen sanften Kurswechsel ein, die sich in den vergangenen Jahren zu den stursten Verfechtern des Ökonomismus in Markteuropa gemacht haben. Da läßt dann Helmut Kohl, dessen Regierung bislang gemeinsam mit dem britischen Kabinett John Majors die Aufnahme von Beschäftigungspolitik als Unionsziel in den „Maastricht-II“-Vertrag verhindert hat, ausrichten, er wolle nun über den Arbeits- und Sozialpakt „keinen Religionskrieg“ mehr führen. Daß Kohls letzter Verbündeter abhanden kommt, daß John Major übermorgen vom „modernen Sozialdemokraten“ Tony Blair abgelöst wird, darauf hofft derweil ohnehin toute Europe.

Ein letzter, eiliger Blick noch ins Feuilleton, oft ein Seismograph gesellschaftlicher Stimmungen: Hier wird gelehrt das Primat der Politik zurückgefordert, der Zentralbankismus angeprangert, ein wenig kommunitaristisch, ein bißchen neokeynesianisch gegen den „Turbo-Kapitalismus“ agitiert und gegen den technokratischen Pragmatismus Politik im emphatischen Sinne angemahnt. Daß es „auf der politischen Ebene nicht Visionen, sondern ernüchterte Zustimmung zum Fälligen“ brauche, wie das Hermann Lübbe 1974 in seinem „Tendenzwende“-Beitrag geschrieben hatte, galt seither als offenkundige Maxime jeder Politik und fand seinen sinnfälligsten Ausdruck in Kohls Rede beim CDU- Parteitag 1996, wo er allen Kritikern seines Kurses vorhielt, diese mögen die Wirklichkeit doch gefälligst „zur Kenntnis nehmen“.

Der Wunsch, aus diesem Korsett, dem Diktat der „Sachzwänge“ der Marktgesetze, sich zu befreien, klingt in den vielfältigen Hinweisen auf die neuerliche „Tendenzwende“ an. Ihr Schub zu verleihen, dies ist, wie Hermann Lübbe 1974 so schön gespreizt formuliert hat, „gerade das, was jeder Vernünftige wollen muß“. Robert Misik