„Wir brauchen eine Umverteilung“

■ Interview mit IG-Medien-Chef Detlef Hensche über Verringerung der Arbeitszeit, Lohnverzicht und solidarische Verteilung von Arbeit

taz: Herr Hensche, die Reaktionen im Gewerkschaftslager auf den Vorstoß von Klaus Zwickel sind widersprüchlich ausgefallen. Sie selbst sind voll des Lobes, während sich der Chef der IG Chemie von diesem Kurs klar distanziert hat. Droht den Gewerkschaften jetzt eine „Zerreißprobe“?

Detlef Hensche: So hoch hängen würde ich das nicht. Im übrigen hatten wir auch Anfang der achtziger Jahre einen vergleichbaren Konflikt, als es um die Einführung der 35-Stunden-Woche ging. Im Unterschied zum IG-Chemie- Vorsitzenden halte ich es angesichts der dramatischen Entwicklung der Arbeitslosigkeit für unausweichlich, eine gewerkschaftliche Initiative zur Umverteilung der Arbeit zu ergreifen.

Zum Zwickel-Vorschlag gehört ein bedingter Lohnverzicht. Halten Sie eine Formel, wonach die Kosten der Arbeitszeitverkürzung von Arbeitnehmern, Unternehmern und der Bundesanstalt für Arbeit zu je einem Drittel getragen werden könnten, für denkbar?

Im Prinzip ja. Allerdings stellt sich die Frage nur, wenn große Schritte der Arbeitszeitverkürzung vereinbart werden. Bei etwa nur einer Stunde brauchen wir über Lohnverzicht nicht zu reden. Doch bei größeren Schritten muß man über diffenrenzierte Lösungen nachdenken. Nicht alle können verzichten. Für untere und mittlere Lohn- und Gehaltsgruppen könnte das Nettoeinkommen auch durch vorübergehende Lohnzuschüsse und/oder steuerliche Präferenzen ausgeglichen werden. Daran zeigt sich auch, daß Arbeitszeitverkürzungen im größeren Stil nicht mehr allein Sache der Tarifpartner sind, sondern eine Beteiligung der Politik erfordern.

Fürchten Sie nicht, daß gerade eine Verteuerung der einfachen Arbeit zu mehr Rationalisierungsdruck führt und dadurch für Arbeitnehmer in unteren Lohngruppen noch weniger Jobs bleiben.

Nach dieser Rechnung hätten wir heute noch keine Eisenbahn, wäre nur der Hafer für die Pferde billig geblieben. Nein, Rationalisierungen folgen anderen Motiven. Wichtiger als die Lohnhöhe sind Marktreife, Kapazitätserwartungen, Flexibilisierung der Produktion, Konkurrenzverhalten etc. So finden wir denn auch ein und dieselbe Technik mit den gleichen Rationalisierungsfolgen in der Bundesrepublik, in Frankreich, in den USA, in Polen und in Ungarn – bei unterschiedlichsten Löhnen und Gehältern.

Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Gerhard Fels, glaubt, nachweisen zu können, daß die pauschale Arbeitszeitverkürzung nicht zu mehr, sondern zu weniger Arbeitsplätzen geführt hat. Der Zwickel-Kurs sei deshalb kontraproduktiv.

Dann kennt Herr Fels die einschlägigen Untersuchungen nicht. Es gäbe annähernd 800.000 Arbeitslose mehr, wenn wir bei der 40-Stunden-Woche geblieben wären. Jede Arbeitszeitverkürzung ist beschäftigungswirksam, je größer, desto mehr. Die Kostenfrage stellt sich nicht anders als bei jeder Lohnerhöhung; sie hängt vom Produktivitätsfortschritt, der Entwicklung der Lohnstückkosten, den Wechselkursen und anderen Faktoren des Verteilungsspielraums ab. Entscheidet man sich für einen differenzierten Lohnausgleich und womöglich noch für einen sozialpolitischen Flankenschutz, dann liegt das Kostenargument vollends neben der Sache. Überdies kommen uns wachsende Arbeitslosigkeit und gesellschaftliche Spaltung volkswirtschaftlich teurer zu stehen als eine Strategie, das mangels Wachstum schrumpfende Arbeitsvolumen solidarisch und gerecht zu verteilen.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat gesagt, die Unternehmer würden sich gegen eine weitere Arbeitszeitverkürzung „mit aller Macht stemmen“. Ohne massive Streiks wäre bei dieser Frage wohl kaum etwas zu bewegen. Glauben Sie, daß die Gewerkschaftsbasis dazu bereit sein könnte.

Das hoffe ich. Gegenwärtig sind wir davon noch weit entfernt. Zuallererst müssen wir gegen die herrschende neoliberale Wirtschaftsdoktrin das Bewußtsein dafür schärfen, daß angesichts wachsender Massenarbeitslosigkeit eine Umverteilung der Arbeit notwendig ist. Die Frage lautet doch: Welche Gesellschaft und welchen Wohlstand wollen wir? Können wir wachsende Armut und eine vertiefte gesellschaftliche Spaltung verantworten? Ich meine, eine solidarische, auf sozialen Ausgleich bedachte Gesellschaft kann auf weitere Arbeitszeitverkürzungen nicht verzichten. Über diese Zusammenhänge müssen wir diskutieren, möglichst breit, auch außerhalb der Gewerkschaften. Erst wenn wir damit erfolgreich sind, können wir in die Offensive gehen, einschließlich eines gegebenenfalls notwendigen Arbeitskonflikts.