Lobeshymnen auf GB

■ betr.: „Die Erfolgsstory der Thatcher-Generation“, taz vom 23. 4. 97

[...] Vor zwei Wochen hat die Londoner „New Economics Foundation“ (die den Alternativen Weltwirtschaftsgipfel TOES gegründet hat) in einer Studie belegt, daß die Lebensqualität („well being“) der Briten seit 1980 laufend gefallen ist. Schon 1989 – nach zehn Jahren Thatcherismus – meinte die Mehrheit der Briten (laut einer in der konservativen Daily Telegraph veröffentlichten Umfrage) sie seien als Volk in diesen Jahren aggressiver, egoistischer, intoleranter und unehrlicher geworden. Die Straßen seien unsicherer, die Umweltverschmutzung schlimmer und die öffentlichen Verkehrseinrichtungen schlechter geworden. 55 Prozent meinten, das Land sei auf dem falschen Weg – nur 33 Prozent waren anderer Meinung.

Heute, nach weiteren sechs Jahren unter Major, ist vieles noch schlimmer geworden. Die Einkommensverteilung ist jetzt ungleicher als vor 100 Jahren! Wegen der steigenden Durchschnittseinkommen glaubt Johnson, die arbeitenden Briten müßten „den Gürtel nicht enger schnallen“. [...] Schade, daß er nicht aus der virtuellen Welt der nichtssagenden beziehungsweise manipulierten Statistiken ausgetreten ist in das reale Großbritannien – in dem ich seit zehn Jahren lebe.

[...] Die Krankheiten und sozialen Verhältnisse der viktorianischen Zeit breiten sich wieder aus (The Guardian, 25. 11. 96). London ist die „Europäische Hauptstadt der Kriminalität“: Die Verbrechen nahmen in den letzten zehn Jahren schneller zu als in irgendeinem anderen europäischen Land (The Independent, 23. 4. 97). Die Zahl der Haushalte, in denen niemand eine Arbeit hat, hat sich seit 1975 verdreifacht. Sie beträgt über 20 Prozent, verglichen mit 8,4 Prozent in Deutschland (Eurostar Labour Force Study). Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten ist unter Thatcher/Major weitergegangen als in irgendeinem anderen demokratischen Land (The Economist).

Jeden Tage sehe ich in London mehr Bettler und Obdachlose als zum Beispiel kürzlich während eines Besuchs in Kiew. Als meine Frau wieder als Lehrerin arbeiten wollte, bekam sie eine Klasse, in der es überhaupt keine Schulbücher mehr gab. In unserem Stadtteil finanzieren die Eltern viele Schulaktivitäten selbst. Nach Geburten werden die Väter ermuntert, auch über Nacht im Krankenhaus zu bleiben, weil es zuwenig Personal gibt, um die Mütter und Babies zu betreuen...

Besonders weltfremd ist die Behauptung, die konservative Ära der Deregulierung habe die wirtschaftlichen Aussichten langfristig verbessert. Sogar der alte konservative Expremier Macmillan hat gewarnt, daß Thatcher nicht Wohlstand geschaffen, sondern nur „das Familiensilber verkauft“ hat. Jakob von Uexkull, London/GB

Dominic Johnson feiert in seinem Artikel die ökonomischen Erfolge der marktliberalistischen Umgestaltung Britanniens seit 1979. Mit makroökonomischen Zahlen führt er vor, daß die Wirtschaft boomt und – so seine These – es damit allen ArbeitnehmerInnen prima geht.

[...] Die Wirtschaft boomt in der Tat. Ihre Gewinne fließen in die Taschen multinationaler Konzerne – zu einem noch höheren Anteil als in anderen europäischen Staaten. Sollten die dort Beschäftigten sich überlegen, flexibel genug gewesen zu sein und beispielsweise Krankengeld zu fordern, würden sie entweder entlassen, oder ihre Betriebe würden über Nacht verschwinden. Zweigniederlassungen mit wenig Know- how lassen sich problemlos dichtmachen. Die Hochtechnologie bleibt ohnehin bei den „Mutterkonzernen“ in den USA oder Japan.

Sollten die Frauen, die so löblicherweise teilzeitbeschäftigt werden, Stundenlöhne verlangen, die über drei Britischen Pfund lägen (wie dies letzten Herbst in einer Kampagne geschah), könnten sie gehen, ihre Männer auf Berliner Baustellen besuchen (wohin letztere sich vor der Arbeitslosigkeit und Niedriglöhnen geflüchtet haben), auch ohne Mutterschutz in Ruhe Kinder kriegen und darauf vertrauen, daß sie nicht zu den 24 Prozent Armen gehören werden, die nach zwei Jahren immer noch unter der Armutsgrenze leben.

Daß viele Menschen in den ehemaligen Industriestädten Nordenglands ohne Beschäftigung und in Armut leben (in einzelnen Innenstadtvierteln von Newcastle, Manchester, Sheffield etc. über 40 Prozent), liegt nur daran, daß sie als machistische Gewerkschaftsfossile auf Jobs in den traditionellen Industrien bestehen. Den Liverpool Dockers, die seit eineinhalb Jahren gegen ihre Entlassung und teilweise Wiederbeschäftigung auf Tagelöhnerbasis streiken (mit ihnen haben sich unzählige ArbeitnehmerInnen aus der Region solidarisiert), fehlt es nur an nötiger Flexibilität. Wie auch dem Rest von Nordengland sowie Südschottland, dem südlichen Wales und Teilen der Midlands. Es sei denn, die BewohnerInnen dieser Regionen starten einen der berühmten britischen Kleinbetriebe.

New Labour sieht das auch so. Deshalb will Tony Blair die marktliberalistische Politik fortführen und noch um einige Kuriositäten bereichern, wie vielleicht eine abendliche Ausgangssperre für Großstadtkinder, die vor lauter Übermut und Lebensglück zu Gewalttaten neigen. [...] Sebastian Berg, Oldenburg

[...] Auch wenn Dominic Johnson sich um eine differenzierte Darstellung bemüht und wenigstens im Nebensatz auf die enorme Kluft zwischen Arm und Reich eingeht, so ist sein ganzer Ansatz doch wesentlich verkürzt. Ein rein beschreibender Vergleich der Wirtschaftsmodelle England und Deutschland vergißt, 1. zu bedenken, daß weltweit die Erwerbsarbeit im herkömmlichen Sinn abnimmt, und warum dem so ist, und verzichtet 2. darauf, zu antizipieren, was geschähe, wenn Deutschland und die anderen europäischen Staaten dem Beispiel Englands folgen würden. Einhergehend mit ständigen arbeitsplatzabbauenden Rationalisierungen sorgt eine wirtschaftliche Globalisierung dafür, daß sich der schärfer werdende Kampf um Arbeitsplätze von der Ebene des Individuums auf die Ebene der Nationen verschiebt. Als Sieger in diesem Standortwettbewerb steht die Nation da, welche ihre Öko-Sozialstandards am tiefsten in den Keller fährt. Arbeitsplätze werden dadurch nicht geschaffen, lediglich die Bedingungen zu denen sie angetreten werden verschlechtern sich. Benjamin Adamczak, Nauheim

[...] Endlich einmal ein Querdenker, der den Tabubruch wagt und die strukturkonservativen Sozialproteste unserer Industrie-Dinosaurier mit gediegenen Informationen in die Schranken weist. [...]

Wollte uns doch glatt ein gewisser Werner Rügemeier mit seinem Miesmacherartikel „Die Mär vom Jobwunder bei den Nachbarn“ (taz vom 22. 4. 97) weismachen, daß alles nicht stimmt und die Lage britischer Arbeitnehmer miserabel wäre. Wer einmal versucht hat, bei uns ein Dienstmädchen – ehrlich, fleißig, pünktlich und sauber – zu bekommen, weiß, wie verdienstvoll die Inselregierung waltet. Und selbst der Blair, der Tony, hat gesagt, er werde als Labour-Chef nichts ändern. Da soll doch die altlinke 68er-Gerontokratie mal was sagen, mit ihrem ewigen Geunke von den prekären und schlecht entlohnten Dienstleistungsjobs ohne Qualifikationsprofil. Denen ist mit Dominic Johnson zuzurufen: Besser teilzeitbeschäftigt als gar nicht beschäftigt.

Was erlaubt sich überhaupt die Masse fauler, krankfeiernder und den Fiskus betrügender Berufstätiger? Ohne Eigentum, ohne Aussicht, nennenswerte Vermögenswerte jemals zu besitzen! Selbst ein halbstaatlicher Fernsehsender wie arte entblödet sich nicht, heute (24. 4.) zur besten Sendezeit in „Schattenseiten des Wirtschaftswunders“ über die soziale Kehrseite des wirtschaftlichen Aufschwungs in England herzuziehen. Hier tut wahre Aufkärung not – als Ausweis echter Liberalität. Das zivilgesellschaftliche Projekt einer modernen Bürgergesellschaft braucht Zeitungen wie die taz, die unbequem und gegen den Strom anzuschwimmen bereit sind und den Millionen wirtschaftlich Unselbständigen auch mal das Reizvolle ihrer Situation vor Augen führen. (Arbeitslose und Geringbeschäftigte könnten doch auch mit Gewinn – na? – Zeitung lesen.) [...] Andree Slickers, Berlin

[...] Auch wenn D. Johnson etwas einseitig fast nur die positiven Seiten des britischen „Jobwunders“ darlegt, so ist seiner Analyse doch in vielem zuzustimmen. Das hohe Wachstum in England, die trotz aller unzweifelhaft angewandten statistischen Tricks niedrige und dauernd sinkende Arbeitslosigkeit, die Zunahme von Arbeitsplätzen und die hohe Flexibilität des Arbeitsmarkts sind Tatsachen, die sich von den professionellen deutschen Bedenkenträgern nicht wegdiskutieren lassen. Interessant sind zudem andere Entwicklungen, die in der bisherigen Diskussion zum Thema kaum bekannt waren (auch mir nicht) und den verbreiteten Vorurteilen von einer Verarmung weiterer Bevölkerungskreise widersprechen: Die Zunahme des realen Nettolohns, die Steigerung der Realeinkommen, die hohe Beschäftigungsquote, die verbreitete Teilzeitarbeit und die Tatsache, daß von den unzweifelhaft relativ vielen Armen nur wenige dauerhaft unter der Armutsgrenze verbleiben. Auch die Tatsache, daß die Frauenerwerbsquote deutlich gestiegen ist, hier somit ein wichtiges Stück praktischer sozialer Emanzipation und Gleichberechtigung erreicht wurde, sollte die negativen Vorurteile gegenüber der englischen Entwicklung widerlegen.

Daß sich hinter diesen britischen Erfolgsstatistiken krasse soziale Disparitäten verbergen und die Zuwächse der Einkommen sicherlich sehr ungleich verteilt sind, sollte nicht vergessen werden. Trotzdem beweist das britische „Jobwunder“ eins: Es ist möglich, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosenquoten nachhaltig zu senken. Erforderlich ist ein deutliches Umdenken bei allen: der Politik, den Arbeitnehmern, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften. Alle müssen bereit sein, auf alte Gewohnheiten und „Besitzstände“ zu verzichten und sich auf Neues einzulassen. Eine grundlegende Modernisierung in vielen Bereichen tut not. Dazu gehört der Verzicht auf überlebte Sicherheiten und Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind. [...] Christian Clement, Hamburg

Echt klasse, da soll mal jemand behaupten, meine Leib- und Magenzeitung wäre nicht ausgewogen: Während ich am Dienstag erfahre, wie in GB gemauschelt und getrickst wird, um die AL-Quote zu faken und daß die Quote mit 14 Prozent real höher ist als in D (6,1 Prozent), bekomme ich nur einen Tag später eine ganze Seite Lobeshymnen auf das GB-Wirtschaftswunder und den Thatcherismus im besonderen präsentiert mit der Info, die AL-Quote liege in GB bei 6,1 Prozent, und überhaupt wäre das britische Wirtschaftswunder vorbildhaft für D.

Die Wahrheit liegt wahrscheinlich wie immer in der Mitte. Hilmar Fuenning