Mutter aller Demos

Der 1. Mai in Westberlin und Ostberlin. Eine kleine Chronik des historischen Festumzugs  ■ Von Helmut Höge

Daß ausgerechnet der „Tag der Arbeit“ im Schaufenster des Westens (der besonderen politischen Einheit Westberlin) jedesmal von einiger Spannung ist und von vielen Seiten hitzig vorbereitet wird, deutet bereits auf den konsumistischen Charakter dieser Veranstaltung hin, die nach wie vor eigentlich auch nur im Westteil stattfindet und dort ihren Höhepunkt im Anschluß an die letzte große Amüsierpöbelmeile „B 750“ hatte. Zwar wurde immer wieder versucht, sie den ortsansässigen Produktionsarbeitern schmackhaft zu machen, aber meist vergeblich. Ebenso wie die alten und neuen Versuche, sie in den Osten rüberschwappen zu lassen. Die APO führte ihre Demos mal durch den einen, mal durch den anderen Arbeiterbezirk: 1969 zum Beispiel von Moabit in den Wedding und 1972 durch Neukölln, wo Joseph Beuys sie filmisch-fegend begleitete. Die Gewerkschaften veranstalteten derweil mäßig besuchte Kundgebungen: 1969 kamen immerhin noch 20.000 zum Reichstag. 1995 waren es nur noch einige tausend – im Köllnischen Park, wo der Ordnungsdienst DGB sich zudem mit einigen Türken anlegte, die wegen des PKK-Verbots auf die Gewerkschaftsbühne gestürmt waren. 1996 wurde der DGB-Vorsitzende Schulte am Roten Rathaus wegen seines Bündnisses für Arbeit von Arbeitslosen ausgebuht.

Und heuer findet die zentrale berlin-brandenburgische DGB- Kundgebung – man glaubt es kaum – in Neuruppin statt. Die Einzelgewerkschaften marschieren jedoch wieder zum leeren Roten Rathaus, wo sonst der unselige Diepgen residiert, der jedoch am 1. Mai stets mit seiner Mutter auf den Wannsee-Terrassen sitzt. Wegen der „monotonen Wiederholung immer gleichlautender Reden und Forderungen“ glauben viele, die Mai-Feier sei „eine leere Demonstration geworden“, schrieb Rosa Luxemburg 1907. Mit diesem Zitat und noch vielen anderen rufen die Kreuzberger Autonomen 1997 zur Demo am Rosa-Luxemburg-Platz auf. Vorher hatten sie sich mit den Ostautonomen wegen der Route gestritten: Letztere wollten sie nicht durch den Prenzlauer Berg randalieren lassen.

Als dann auch noch das Anti- Olympia-Komitee West sich mit dem Ostlerwunsch solidarisierte, wurde die Route auf Mitte beschränkt. Um das Gesicht zu wahren, bezeichneten die Westautonomen ihren Demo-Endpunkt Rosenthaler Platz jedoch als in Prenzlauer Berg gelegen. Die türkische Linke hatte sich da längst für eine Demo vom Oranienplatz aus (um 13 Uhr) entschieden. Einige Westautonome bedauern in der Interim, daß die Junge Union ihre 1.-Mai- Demo absagte. Auch die traditionelle Walpurgisnacht-Randale auf dem Kollwitzplatz im Osten zum Anwärmen wird es heuer „offiziell“ nicht geben, statt dessen sollen alle „Frauen Lesben Mädchen“ um 18 Uhr mit der U 2 auf den Sophie-Charlotte-Platz im Westen kommen. Über die letzte Walpurgisnacht am Kollwitzplatz gibt es einen Westautonomen-Film, mit dem die „Sicherheitspartnerschaft“-Idee der Ostler vorgeführt wird, man kann ihn sich passend zum Fest im Kreuzberger Videodrom ausleihen.

Kurz vor dem Kampftag findet auch noch ein Arbeitskongreß für alle ArbeitsmarktpolitikerInnen im Haus am Köllnischen Park statt, veranstaltet von der SPD-Arbeitssenatorin Christine Bergmann, der ehemals schönsten Sängerin des Jenaer Kirchenchors. Ferner eine Ausstellung in den Oranienstraßen-Räumen der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst – zum Thema „Faktor Arbeit“ und bestückt unter anderem mit dem Beuys-Fegefilm sowie mit einem weiteren 1.-Mai-Film – von 53 Künstlern.

Gleich um die Ecke, im Club 39 der ehemals besetzten Häuser in der Manteuffelstraße, läuft am 1. Mai ein Film über „die Mutter aller Nächte“ – die Randale vom 1. Mai 1987, als Bolle brannte. Der Supermarkt wurde übrigens nicht von einem Serienbrandstifter abgefackelt, wie die taz neulich berichtete, sondern eher aus Versehen und wegen des vielen ausgekippten Alkohols.

Was der Film über den 1. Mai 1987 im Club 39 für die Westlinken, ist am 30.4. eine Diskussion über den Arbeiterkampftag („Revolutionäre Demonstration oder Pop-Festival?“) und am 1. Mai abends eine lichtbildgestützte Lesung (über „Franz Jung und die Frauen“) – beides in der Galerie am Prater – für die Ostlinken.

Für die gutwilligen Liebhaber verbrannter Würstchen und lauwarmer Biere – in Ost und West – gibt es erneut zwei „Straßenfeste“, eins auf dem Prenzlauer Berger Humannplatz und eines auf dem Kreuzberger Mariannenplatz, wo schon einmal eine Fete großartig platzte – von Ton Steine Scherben hernach besungen. Letztes Jahr verteilte der Weddinger „Revolutionäre Funken“ auf der Autonomen-Demo ein schönes Flugblatt gegen den Konsumismus. Das darf man wohl auch diesmal von ihnen erwarten! Obwohl die meisten Westberliner Altlinken – von A wie Agnoli und Altvater über B wie Berndt und Bischoff, K wie Kunzelmann, N wie Nirumand, T wie Till Meyer und Rainer Trampert bis zu S wie Semler und Ströbele und W wie Lutz von Werder und Reinhart Wolff – mit der Vorbereitung einer Konferenz zu solch brennenden Themen wie „Was wir wollten – was wir wurden“ und „Wo soll das alles enden?“ beschäftigt sind. „Angeboten werden bisher 15 Arbeitsgruppen und drei Generaldebatten“ – kein Scheiß –, und zwar genau am Weltuntergangstag 30. Mai bis 2.Juni. An diesem Tag vor dreißig Jahren wurde Benno Ohnesorg an der Deutschen Oper erschossen.

Und die Arbeiter, was machen die Ost- und Westberliner Arbeiter an ihrem Kampftag? Sie werden wohl in der übergroßen Mehrzahl wie immer ins Grüne fahren – und wenn sie inzwischen arbeitslos geworden sind: dann erst recht. An diesem Punkt bin ich nach wie vor mit den Westautonomen einer Meinung: Wenn schon keine Prolo-Blöcke in den Demos, dann wenigstens Blaulicht – mit einer Prise Tränengas! Deswegen reisen auch die Filmteams von überall her in die sogenannte Hauptstadt: „Spiegel TV“ schickt allein drei Crews, der SFB wie üblich seinen Scout Benedikt Mülder, und das polnische Fernsehen sammelt auf den Demos „Schnitt-Übergänge“ für eine Serie über polnische Bauarbeiter in Berlin.

Trotz alledem bleibt das Problem: die Kommunikation den Werbe- und Politikfuzzis zu entwinden und wieder in die Produktionssphäre zurückzutragen – das hat der 1.Mai einmal symbolisch vorgeführt.